Nach Scott Galloways gewohnt pointierter Eröffnungskeynote war am ersten Tag der Hamburger Digitalmesse OMR 2025 der Tech-Riese Google am Zug, und schickte Debbie Weinstein in den Ring. Die Chefin des EMEA-Geschäfts, seit über zehn Jahren bei Google und zuvor selbst Marketingleiterin, betrat die Bühne mit ruhiger Autorität und einem klaren Ziel: zeigen, dass KI mehr ist als ein Buzzword. Was folgte, war weniger ein Produktpitch, mehr eine technologische Kampfansage an Agenturen, Plattformen und Konkurrenten.
Google will Informationsflut mit KI ordnen
„Über fünf Billionen Suchanfragen jährlich. Und jeden Tag sind 15 Prozent davon vollkommen neu“, sagte Weinstein auf der Mainstage der OMR. Für Google sei das ein Beweis für die „unbändige menschliche Neugier“ und für die Notwendigkeit, die Suche neu zu denken.
Weinstein spannte den Bogen von ihrer Kindheit in einem Vorort von Boston bis zu ihrer heutigen Verantwortung für rund 20.000 Mitarbeiter in über 35 Ländern Europas, des Nahen Ostens und Afrikas. „Ich war immer neugierig und Google war für mich von Anfang an ein Ort, der diese Neugier nährt.“
Künstliche Intelligenz sei dabei nicht nur ein Werkzeug, sondern ein Paradigmenwechsel. „Die Plattformwechsel ins Internet und später aufs Smartphone waren bedeutend. Aber KI ist größer. Sie verändert alles.“ Google wolle die Informationsflut mithilfe von KI ordnen und zugleich wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen schaffen.
Google-Suche ist „größter Moonshot“
Weinstein präsentierte mehrere Technologien, die zeigen, wie Google KI bereits heute produktiv einsetzt: AlphaFold etwa, das weltweit erste KI-System, das mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, beschleunige die Medikamentenentwicklung um Jahre oder gar Jahrhunderte, so die Managerin. Firesat, eine satellitengestützte Anwendung, nutze Künstliche Intelligenz, um weltweit Waldbrände in Echtzeit zu erkennen und zu überwachen. Und Notebook LM, von „Time Magazine“ als eine der besten Innovationen des Jahres 2024 gelistet, hilft Nutzern dabei, Dokumente automatisch zu analysieren, zu strukturieren und inhaltlich zu durchdringen, ein digitales Experten-Tool für den Schreibtisch.
Zentrales Thema blieb jedoch die Google-Suche, Googles „größter Moonshot“, wie Weinstein betonte. Die neue Funktion AI Overviews, inzwischen auch in Deutschland verfügbar, generiert auf Basis komplexer Fragen direkte, zusammenfassende Antworten. Nutzerzahlen bestätigen den Erfolg: über 1,5 Millionen Views pro Tag.
Wie Menschen heute suchen und was das für Marken bedeutet
Mit klassischen Suchanfragen habe das zunehmend wenig zu tun, auch weil sich die Art, wie Menschen Informationen suchen, selbst verändert. Tools wie Google Lens, Gemini Live und Circle to Search sollen es ermöglichen, visuell, kontextbezogen und direkt im Interface zu recherchieren, per Foto, durch Bildschirmübertragung oder durch Markieren von Inhalten. Besonders Circle to Search zeige starkes Wachstum, vor allem bei jüngeren Nutzenden. Für das erste Quartal 2025 meldet Google eine Nutzungssteigerung von rund 40 Prozent. Wobei unklar bleibt, wie nachhaltig sich diese Interaktion etablieren wird.
Auch für Werbetreibende hat Google neue Argumente im Gepäck. Die Verbindung von Broad Match, einer flexiblen Suchaussteuerung, mit Value-based Bidding, das je nach Kaufabsicht unterschiedliche Gebote auslöst, soll dabei helfen, Kampagnen effizienter zu steuern. Audi diente als Fallbeispiel: Der Autohersteller habe durch diese Kombination seine Kosten pro Neukunde um 60 Prozent gesenkt und den Return on Investment bei Suchanzeigen nahezu verdoppelt.
Google-Managerin Weinstein: „Man kommt an KI nicht vorbei“
„Die digitale Welt ist heute komplexer denn je. Nutzer bewegen sich täglich über mehr als 130 mobile Kontaktpunkte und treffen 35.000 Entscheidungen, keine Customer Journey gleicht der anderen“, sagte Weinstein. Für Marketer bedeute das: „Planbarkeit gibt es kaum noch, und ohne KI lässt sich diese Dynamik nicht mehr bewältigen.“ Die Grundannahme dahinter: Die (digitale) Welt ist fragmentierter, denn je – Nutzerpfade unvorhersehbar.
Weinstein ging zudem auf die Frage ein, wo Kaufentscheidungen heute tatsächlich fallen. Zwar entstünden viele Impulse in sozialen Netzwerken, doch die eigentliche Bewertung geschehe weiterhin in der Suche. 63 Prozent der Konsumenten seien laut Google offen für neue Marken, sie wollten aber Informationen prüfen, Preise vergleichen, Rezensionen lesen. In Deutschland greifen laut Google 79 Prozent der Gen Z auf Google zurück, wenn es ums Einkaufen geht – egal ob zur Recherche, beim Stöbern oder zum finalen Kauf.
Google zeigt klares Machtstatement
Zum Abschluss richtete Weinstein einen Appell an die Branche: Wer verstehen wolle, wie die Konsumenten von morgen denken und handeln, komme an KI nicht vorbei. Gleichzeitig forderte sie mehr Mut, neue Technologien praktisch zu testen, nicht irgendwann, sondern jetzt. Google selbst wolle, so Weinstein, nicht nur bessere Anzeigen ermöglichen, sondern helfen, bessere Unternehmen zu bauen.
Was Debbie Weinstein auf der OMR gezeigt hat, war kein Blick in eine ferne Zukunft, sondern ein klares Machtstatement. Google will nicht nur bei den neuesten Technologien vorn mitspielen, der Konzern will bestimmen, wie digitale Märkte künftig funktionieren. Wer in der KI-gestützten Welt sichtbar bleiben will, muss sich an Googles Spielregeln halten.
Die Wege, über die Nutzer Informationen finden oder Werbung ausgespielt bekommen, laufen zunehmend über Googles eigene Plattformen, und genau das ist Teil der Strategie. Offenheit wird betont, aber faktisch zieht Google die Zügel enger. Die Keynote wirkte sympathisch, aber die Botschaft war deutlich: Google will nicht nur Teil des Wandels sein. Es will der Ort sein, an dem die Entscheidungen fallen.

