Start-ups in Indien: Mit den vorhandenen Mitteln die bestmögliche Lösung erreichen

Indiens Start-up-Szene ist im Aufbruch. Sie lockt mit jungem Talent und einer eigenen Innovationskultur. Auch Deutsche interessieren sich zunehmend für die indischen Gründer. Wieso?
Das Office vom Start-up Wingify in Bangalore (© Wingify 2017)

Wingify ist eine der ersten Plattformen zur Website-Optimierung. Ihr Programm läuft ausschließlich über das Netz. In der Browsermaske können Nutzer kinderleicht A- und B-Test-Verfahren vorbereiten und durchführen. Gegründet haben Gupta und Chopra das Unternehmen bereits mit Anfang 20, das war 2009. Heute zählt es fast 200 Mitarbeiter – und wächst fortlaufend.

Start-ups mit einer Bewertung von über einer Milliarde US-Dollar

Sparsh Gupta ist nur einer von vielen Protagonisten, die den neuen indischen Gründergeist prägen. Neun sogenannte „Unicorns“ hat Indien in den vergangenen Jahren hervorgebracht: Start-ups mit einer Bewertung von über einer Milliarde US-Dollar. Der Sprit, auf dem sie laufen, heißt Digitalisierung – und technisches Know-how. Allein 2015 wuchs die Zahl der Tech-Start-ups im Land um 40 Prozent. Einem Ranking des Beratungsunternehmens Compass zufolge wuchs die Menge der Investitionen in keiner Stadt weltweit so stark wie in „Indiens Silicon Valley“, Bangalore. Hinter Berlin und Amsterdam ist sie die am schnellsten wachsende Start-up-Region der Welt. Aber auch die Hauptstadt Neu-Delhi und Indiens Finanz-Metropole Mumbai holen auf.

Die Aufbruchsstimmung zieht internationale Blicke auf sich

Nachdem Amerika schon seit Jahren engere Beziehungen zu dem Subkontinent unterhält – nicht zuletzt, weil viele Inder zum Studieren in die USA gehen und allzu häufig bei Szenen-Größen wie Google oder Facebook hängen bleiben –, zeigt auch Deutschland zunehmend Interesse. Angela De Giacomo etwa gründete 2015 die Plattform Wundernova: Hier können sich indische und deutsche Akteure der Start-up-Szene vernetzen, voneinander lernen, aber auch Synergien finden. Welche könnten das sein?

Jede Revolution hat ihre Anführer. In Indien heißen sie Binny Bansal, Kunal Bahl oder Bhavish Aggharwal. Es sind die Schöpfer des indischen Amazon, Ebay oder Uber, die indischen Jeff Bezos oder Elon Musks. Durch sie wurden Start-ups und Gründen als Karriereschritt erst gesellschaftsfähig, sagt Sparsh Gupta. Noch vor ein paar Jahren galt als erfolgreich, wer eine Anstellung bei einem großen Konzern ergatterte. Und Status ist in Indien alles. Als Gupta 2009 in London seinen ersten Job aufgab und nach Neu-Delhi zurückkehrte, um an Wingify zu arbeiten, traf er keineswegs auf Verständnis. „Alle dachten, ich wäre gefeuert worden“, sagt er. „Niemand konnte akzeptieren, dass ich selbst etwas gründen wollte.“

Neue Jobs in Indien

Mit dem „Start-up India Action Plan“ legte Premierminister Narendra Modi Anfang 2016 eine 19-Punkte-Liste vor, die Gründern erhebliche Erleichterungen versprach. Die Regierung hofft, damit zum einen dem Brain-Drain des Landes entgegenzuwirken und zum anderen Jobs zu schaffen, die Indien dringend nötig hat. Ein Unternehmen kann man in Indien heute online gründen, der gesamte Prozess dauert vielleicht einen Monat. Im Vergleich zu anderen Ländern wie Singapur oder Estland ist das immer noch viel. Vor ein paar Jahren aber dauerte das Ganze noch mehrere Monate. So minimal der Anstoß auch sein mag, in seiner Wirkung hat er die Kraft, eine Kettenreaktion auszulösen.

Nun könnte man entgegnen: Als IT-Outsourcing-Hub war Indien schon immer ein essenzieller Bestandteil der Weltwirtschaft. Software-Unternehmen wie Wingify führen das nur weiter. Das aber verkennt die visionäre Energie der neuen Macher. „Wir wollen Wingify zu einer Institution aufbauen“, sagt Gupta. Ihre Vorbilder sind Google, Apple oder Adobe – globale Unternehmen, die in allen Bereichen des digitalen Wirkens Lösungen anbieten.

Bis 2020 rechnet die indische Software-Vereinigung Nasscom mit 730 Millionen Internetnutzern. Schon jetzt gehen mehr als 80 Prozent der Nutzer über mobile Endgeräte online, die Zahl verdoppelt sich derzeit nahezu jährlich. Indien, heißt es, überspringe die industrielle Revolution gerade, um direkt in die digitale einzutauchen. Die Folge war eine Phase des Übermuts: Bis Ende 2015 steckten Investoren immer mehr und immer schneller Geld in Ideen, die auf die größte potenzielle Nutzerbasis bauten. Oft waren das internetgetriebene Dienste, die es andernorts bereits gab und die einfach auf den indischen Markt übertragen wurden. Gründer und Investoren stolperten dabei nicht nur über ihre eigene Innovationslosigkeit, sondern auch über die Schwierigkeiten eines unberechenbaren Markts.

Vor allem Errungenschaften der Digitalisierung werden häufig überschätzt

Nach China ist Indien zwar das bevölkerungsreichste Land der Welt. Doch viele vergessen, dass noch immer rund 50 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiten, sogar mehr leben in ländlichen Gebieten, wo Internetanbindung noch immer rar ist. So schnell die Kundenscharen gewachsen waren, so schnell verpufften die Millionen an Kapital. Reihenweise Essenslieferdienste oder Onlinestores schlossen Standorte und entließen Personal. Mittlerweile hat sich die Lage wieder beruhigt, 2016 sank das Investitionsvolumen um knapp die Hälfte. Viele glauben an einen Reifeprozess im Markt.

Wie viele gehören auch Singh und Goyal zu einer Generation von Indern, die im Ausland studiert und gearbeitet haben und nun zu Hause etwas Eigenes erschaffen wollen. Kunal Bahl, Co-Gründer des Onlinemarktplatzes Snapdeal, arbeitete zuvor in den USA bei Microsoft. Wingify-Gründer Sparsh Gupta hat in Oxford studiert und die Tracxn-Gründer starteten ihre Karriere in den USA. Mit ihrem Unternehmen zogen sie dann aber nach Bangalore um. Die vibrierende Tech-Metropole lockte die beiden mit der hohen Dichte an hervorragenden Fachkräften. „Es gibt keinen besseren Ort, ein Technologieunternehmen aufzubauen, als Bangalore“, sagt Singh. „Hier gibt es die besten Tech-Leute.“ Und Nachschub kommt am laufenden Band: In absoluten Zahlen hat Indien laut einem UN-Bericht die größte Population junger Menschen weltweit.

Die „Jugaad-Revolution“

Das größte Potenzial Indiens liegt Experten zufolge in einer für Schwellen- und Entwicklungsländer besonderen Innovationskultur. In Indien nennt man das „Jugaad“. Damit ist die Fähigkeit gemeint, mit den vorhandenen Mitteln die bestmögliche Lösung zu erreichen. Schon vor Jahren schrieben Wissenschaftler eine „Jugaad-Revolution“ herbei: Ideen aus Schwellenländern wie Indien sollten erst lokale und dann internationale Märkte umwälzen – weil sie sich an lokale Gegebenheiten anpassten, damit besonders nachhaltig seien und besonders günstig. Doch die großen Würfe blieben bis jetzt aus. Experten nennen das auch „frugale Innovation“: einfache, anwendungsorientierte, aber hochwertige Lösungen zu lokalen Preisen. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung wies zuletzt erst darauf hin, wie fruchtbar etwa die Kombination aus indischem Krisenmanagement und deutscher Langfristplanung sei. Als Vorzeigebeispiel dient derzeit Grey Orange. Der Hersteller für Lagerhausroboter ist fünf Jahre alt und beherrscht zurzeit 90 Prozent des indischen Marktes für Lagerhausautomation. Mit seinen 550 Mitarbeitern in sechs Ländern ist das Unternehmen längst aus den Start-up-Schuhen herausgewachsen.

Gegründet wurde es von den zwei indischen Ingenieuren Samay Kohli und Akash Gupta sowie dem Deutschen Wolfgang Höltgen. Kohli und Gupta erfanden 2007 Indiens ersten humanoiden Roboter, den „Acyut“. Doch erst Höltgen kanalisierte ihre Energie in den wachsenden Markt für Logistik. Der Direktor des German-Indian Business Center in Hannover zehrt von jeder Menge Erfahrung in der Software-Industrie und gilt für beide nicht nur als Investor und Co-Gründer, sondern auch als Mentor. „Höltgens Erfahrung hat uns viel Zeit gespart, vor allem in der Implementierung von Unternehmensprozessen“, sagt Kohli. Allein im vergangenen Jahr wuchs das Unternehmen um 300 Prozent und beschäftigt heute rund 550 Mitarbeiter in sechs Ländern.