Von der guten alten Schlafunterlage aus dem Fachgeschäft zu „One fits all“

Jahrelang passierte auf dem Matratzenmarkt wenig. Dann kamen die Start-ups, und die Preise sanken. Jetzt geben die ersten Pioniere auf. Über eine plötzlich sehr dynamische Branche.

Jeder Kunde kann nachsehen, wie der Preis seiner Matratze zustande kommt: Material und Verarbeitung 113,01 Euro, Transport und Verpackung 13,55 Euro, Transaktionsgebühren 3,39 Euro. Kann das wirklich sein – ein Start-up, das seine Kalkulation auf der Website offenlegt? „Das sind unsere echten Zahlen“, beharrt Alexander Behr, Betriebswirt und einer der vier Gründer des Berliner Online-Matratzenhändlers Snooze-Project.

Zumindest ist es originelles Marketing. Snooze wirbt mit einem „ehrlichen Preis“ von 249 Euro für eine Standardmatratze, 100 Nächte probeschlafen und zehn Jahre Garantie inklusive. „Gutscheine oder Rabattaktionen wie bei anderen Anbietern gibt es bei uns nicht“, sagt Behr. Er wolle die Kunden darüber „aufklären, wie Marktmechanismen laufen“. Indirekt wirft er Konkurrenten damit Beutelschneiderei vor. Ganz schön frech.

Es sind harte Bandagen, mit denen heute in der Matratzenbranche um Kunden geworben wird. Traditionshändler und Newcomer ringen verbissen um Marktanteile. Alles hat sich verändert: das Produkt, der Vertrieb, der Preis und die Promotion.

Jahrzehntelang war das Matratzengeschäft eine solide Bastion, mit gut verteilten Rollen zwischen Herstellern, Fachgeschäften, Discountern und Möbelläden. Der Artikel galt als langweilig und technologisch ausgereizt. „In keiner anderen Branche, deren Waren wir regelmäßig untersuchen, bleiben die Produkte so lange am Markt“, vermerkte die Stiftung Warentest. Vertriebssprache war Fachchinesisch, mit Ausdrücken wie „Kaltschaumkern“, „Vliestaschen“, „Punktelastizität“ und „Liegezonen“. Der Verbraucher hatte kaum eine Chance, das Angebot zu durchblicken, zumal er sich im Durchschnitt nur alle 13,5 Jahre eine neue Schlafunterlage gönnt. Nina Rieke, bis Jahreswechsel Strategiechefin der deutschen DDB-Gruppe und jetzt selbstständige Beraterin, gibt zu bedenken: „Sogar Autos kauft man häufiger.“ Der Preis? Der war hoch, selbst beim Discounter.

Heute ist alles anders. Mindestens zwei Dutzend Matratzen-Start-ups drängten in den vergangenen Jahren auf den deutschen Markt. „Unglaublich, wie sie sich auf die Branche gestürzt und ein neues Paradigma etabliert haben“, findet Rieke. In Rekordzeit stieg der Anteil des Online-Handels von nahe null auf zehn, 15, vielleicht sogar 20 Prozent, genau weiß es niemand. Doch während die Rebellen zunächst satte Pioniergewinne einfuhren, geraten sie nun selbst unter Druck: Es gibt erste Insolvenzen, Rückzüge, Übernahmen. Auf die Goldgräberstimmung folgt der Verdrängungswettbewerb.

Der VC mutiert selbst zum Matratzenanbieter

Vorreiter der Online-Revolution in Deutschland ist ein junger Mann namens Adam Szpyt, der bereits von 2004 an versuchte, einen Online-Direktvertrieb aufzubauen. Zunächst mit wenig Erfolg, doch heute verkauft seine Firma Bett1 mehr Matratzen übers Internet als alle anderen – laut Statista lag der Umsatz 2017 bei 124 Millionen Euro. Das liegt zum einen an der guten Bewertung, die seine Matratze von der Stiftung Warentest erhält, zum anderen an seinem Image als „Preis-Rebell“. An dieser Strategie orientieren sich wohl auch die Gründer von Snooze, vor zweieinhalb Jahren mit 8 000 Euro gestartet und laut Behr „seit Tag eins profitabel“. Andere, wie das amerikanische Start-up Casper oder Eve aus London, sind durch Venture-Capital finanziert.

Neuer Markt, neues Spiel: Als Vorstand von Sleepz baut Alexander von Tschirnhaus ein Matratzenimperium auf

Den wohl kühnsten Versuch, den Markt aufzurollen, unternimmt Sleepz: Die börsennotierte Berliner Unternehmensgruppe, 2017 ins Handelsregister eingetragen, hieß früher BMP und war ein bekannter Risikokapitalgeber; BMP-Chef Oliver Borrmann gehörte zudem zu den Gründern des Magazins „Brand eins“. Jetzt heißt der Vorstand Alexander von Tschirnhaus, und der Geschäftszweck ist Matratzenvertrieb. Dafür gibt es einen ganzen Strauß von Online-Adressen wie perfekt-schlafen, Bettenriese, Buddysleep, Markenschlaf, schoene-traeume oder schlafnett. Es sind insgesamt 13 Online-Shops. „Damit erreichen wir eine große Zahl unterschiedlicher Kundensegmente“, sagt von Tschirnhaus.

Ideale Bedingungen für disruptive Innovatoren

Ein Geldgeber, der ein Geschäftsmodell für so aussichtsreich hält, dass er selbst operativ tätig wird – das sagt etwas aus über die Fantasie, die im Markt steckt. In naher Zukunft will Sleepz 50 bis 100 Millionen Euro Umsatz machen. Angesichts eines Quartalsumsatzes von derzeit rund drei Millionen Euro ein durchaus ambitioniertes Ziel, das nur zu erfüllen ist, wenn man Konkurrenten schluckt. 2017 akquirierte die Gruppe bereits Cubitabo (Matratzenmarke Buddy). „Wir planen auch weiterhin, über Übernahmen zu wachsen“, sagt von Tschirnhaus.

Allerdings hält sich der Branchenumsatz in Grenzen. Der Fachverband Matratzen-Industrie in Essen beziffert ihn in Deutschland für 2016 auf 850 Millionen Euro, andere Studien gehen von einer bis 1,5 Milliarden Euro aus. Mit Masse allein ist die Attraktivität des Marktes für neue Anbieter also kaum zu erklären. Schon eher mit den Margen. Ein Insider schätzt sie auf mehrere Hundert Prozent – bevor die Online-Revolution begann.

Statisch und margenstark – das sind ideale Rahmenbedingungen für disruptive Innovatoren. Doch die Branche wähnte sich lange sicher, denn für den Online-Handel galten Matratzen als ungeeignet: Wie viele Kunden würden sich, ohne probegelegen zu haben, ein so sperriges Ding nach Hause liefern lassen?

Viele, wenn man die Sache nur richtig anpackt. Und das tun die Newcomer. Ihre Zauberformel für Produktinnovation heißt „One fits all“: Die Start-ups bringen Einheitsmatratzen auf den Markt, die Liegekomfort für jedermann versprechen. Pionier Szpyt hat 2016 eine weitere gute Idee: Er stattet seine Matratze mit einer härteren und einer weicheren Seite aus …


Den zweiten Teil des Artikels lesen Sie hier.

(mat) führte ihr erstes Interview für die absatzwirtschaft 2008 in New York. Heute lebt die freie Journalistin in Kaiserslautern. Sie hat die Kölner Journalistenschule besucht und Volkswirtschaft studiert. Mag gute Architektur und guten Wein. Denkt gern an New York zurück.