Kidulting: So wecken Marken das innere Kind in der Kundschaft 

Mit einem neuen Spot setzt Haribo seine erfolgreiche „Kids‘ Voices-Kampagne“ fort. Und zeigt damit vorbildlich, wie man als Marke eine immer relevantere Zielgruppe erreicht, die auch von anderen Unternehmen wie Deichmann oder Gucci umworben wird: die Kidults.
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Für Toan Nguyen, den Gründer und Managing Director der auf Fandom und digitale Popkultur spezialisierten Agentur Jung von Matt Nerd, ist Nostalgie ein wesentlicher Treiber des Phänomens Kidulting. (© Jung von Matt)

Es ist mal wieder etwas passiert in Adventure Bay: Die Lieblingshenne der Bürgermeisterin wird vermisst! Einsatz für die Hundewelpen der „Paw Patrol“, die sofort zu Hilfe eilen. Natürlich mit Happy End – die Hündchen bringen „Chickaletta“ wohlbehalten zu ihrer Besitzerin zurück. Was bei der Zielgruppe der beliebten Kinderserie – den Zwei- bis Sechsjährigen – für Herzklopfen sorgt, finden auch manche Erwachsene cool. Denn ausgerechnet mit „Paw Patrol“ gelang Deichmann einer der größten Marketing-Coups des vergangenen Jahres.  

Auf Wunsch der Tiktok-Community brachte der Schuhhändler Sneaker für Erwachsene im Welpen-Design auf den Markt, limitiert auf 1000 Stück, ausverkauft nach wenigen Minuten. Für Deichmann liegt der Grund für den Erfolg auf der Hand: „Paw Patrol“-Titelheld Ryder und seine Helfer liefen 2013 erstmals über die deutschen Bildschirme. Manche Fans von damals sind inzwischen junge Erwachsene – lieben ihre Helden aber immer noch.  

Ein Trend, den sich auch andere Marken zunutze machen: Modemarke Bershka verkauft derzeit Hoodies mit Lightning-McQueen-Print aus dem Kinderfilm „Cars“, Adidas brachte Sneaker im Lego-Design auf den Markt, selbst bei Gucci gab es T-Shirts und Taschen mit Mickey-Mouse-Print, bei Airbnb konnten Urlauber in einem lebensgroßen Polly-Pocket-Haus übernachten – und Haribo zeigt seit vielen Jahren lehrbuchmäßig mit seiner Kids‘ Voices-Kampagne, wie man als Marke das innere Kind der Kundschaft weckt.   

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Die Deichmann-Sneaker mit Paw-Patrol-Design generierten etwa drei Millionen Videoaufrufe, 17.000 Kommentare, 87.000 Likes und 6725 Saves auf Social Media – und unzählige Anfragen. 

Eskapismus aus der Polykrise 

Kidulting (zusammengesetzt aus „Kids“ und „adults“) nennt man das Phänomen, wenn Erwachsene bewusst kindliche Verhaltensweisen, Hobbys oder Vorlieben für Produkte pflegen. Dahinter steckt aber mehr als große Spielkinder, die in Erinnerungen an die eigene Kindheit schwelgen, sagt Toan Nguyen. Für den Gründer und Managing Director der auf Fandom und digitale Popkultur spezialisierten Agentur Jung von Matt Nerd ist Nostalgie zwar ein wesentlicher Treiber des Phänomens. Doch so aktuell wie derzeit sei der Trend noch nie gewesen – aus mehreren Gründen. 

„Wir leben in einer Zeit der Polykrise, immer mehr Menschen sind auf der Suche nach Eskapismus. Wenn man Dinge kauft und spielt, die man aus der Kindheit und Jugend kennt, ist das wie eine Reise in eine andere Zeit”, sagt der Experte. Und: Es gebe heute viel mehr Menschen, die Dinge wie Privatfernsehen oder Computerspiele in ihrer Jugend erlebt haben. Kidulting hätte es historisch in den 80er Jahren in dieser Form gar nicht geben können, weil es in den 60er Jahren noch nicht so viele Medien gab, erläutert Nguyen. Als Erwachsener Videospiele zu spielen, Batman und Star Trek zu mögen, sei gesellschaftlich heute auch nicht mehr stigmatisiert. “Früher war man ein Kellerkind, wenn man als Erwachsener Magic oder Pokémon-Karten gesammelt hat, heute ist man subkulturell cool und avantgardistisch.“ 

Kidulting auch Thema auf der Spielwarenmesse 

Selbst auf der Spielwarenmesse in Nürnberg war das Thema Kidulting präsent, es gab sogar eine eigene „Kidult Area“, eine interaktive Erlebniswelt für spielende Erwachsene. Das Potenzial ist riesig: Laut einer Studie des Marktforschungsinstituts Brand Trends sehen sich mehr als drei Viertel der bis 33-Jährigen als Kidults, bei den 45- bis 65-Jährigen sogar die Hälfte. 67 Prozent der 18- bis 65-Jährigen können sich vorstellen, im Jahr mindestens zwei Spielzeuge für sich selbst zu kaufen. 

Für Marken ein lukratives Feld: „Die Grundfunktion einer Marke ist das Kreieren von Emotionen“, erklärt Toan Nguyen. „Und was könnte emotionaler sein als das ‚innere Kind‘ der Menschen anzusprechen – vor allem in Zeiten von Angst und Unsicherheit? Im Kontrast zur ‚Purpose-Zeit‘, in der alle Marken so taten, als müssten sie die Welt retten, steht Kidulting für Spaß und Spieltrieb. Und das ist es, was wir gerade brauchen.“  

Ablenkung von den Sorgen des Alltags 

Um herauszufinden, wer die Kidults sind und wie sie ticken, haben Mattel, Jung von Matt Nerd und die Marktforschungsinstitute Appinio und Cronbach mit der Messe Nürnberg eine Studie veröffentlicht. Die Ergebnisse: 73,8 Prozent der befragten älteren Verbraucherinnen und Verbraucher finden beim Spielzeugkauf Trost und Ablenkung von den Sorgen des Alltags, 72,3 Prozent der befragten Erwachsenen entdecken ihre Freude wieder, indem sie nostalgisches Spielzeug kaufen, von dem sie schon als Kinder geträumt haben, 59 Prozent betrachten den Spielzeugkauf als Statussymbol und 73 Prozent geben emotionale Gründe für den Kauf von Spielzeug für sich selbst an.  

Für Nguyen gibt es drei unterschiedliche Arten von Kidults, die für Marken interessant sind: „Die einen wollen ihre Kindheit und das Spielzeug, das sie damals geliebt haben, wieder erleben. Dann gibt es diejenigen, die Dinge nachholen wollen, weil sie sich vieles in ihrer Kindheit nicht leisten konnten. Und es gibt Erwachsene, die keine Kindheit haben durften, weil sie schon früh Verantwortung übernehmen mussten oder in Haushalten lebten, in denen Plastikspielzeug und Videospiele verpönt waren. In China zum Beispiel gehen mehr Menschen ohne Kinder ins Disneyland als mit Kindern.“  

Haribo als Paradebeispiel  

Der Werber empfiehlt allen Marken, sich mit dem Thema zu beschäftigen – und sich dabei nicht nur zu fragen, mit wem man kooperieren könnte oder wann man das nächste Retro-Produkt herausbringt, sondern darum, wie man das innere Kind der Menschen berührt. Ein Paradebeispiel, wie das aussehen kann, ist die Haribo-Kampagne, bei der Erwachsene mit Kinderstimmen sprechen – eine Idee, die bereits seit 2014 funktioniert. „Der Kerngedanke der Kids’ Voices ist, dass wenn man eine Tüte Haribo öffnet, das innere Kind in einem zum Vorschein kommt. Es kommt zu einem Moment der kindlichen Freude. Ganz gleich, wie hektisch unser Tag ist oder wie stressig er auch sein mag“, sagte Herwig Vennekens, Chief Commercial Officer von Haribo, zum zehnjährigen Jubiläum im vergangenen Jahr.  

Seit April gibt es einen neuen Clip aus der ikonischen Reihe, in dem zwei Polizisten eine Tüte Haribo Phantasia naschen – und die Polizei rufen wollen, weil jemand aus der Cola-Fruchtgummiflasche getrunken hat. „Wir sind die Polizei, Dieter!“ – auch dieser Spot ist wieder ein Beweis, dass die Marke nicht nur Kinder froh macht. Ein großer Erfolg war auch die Haribo-Sonderedition mit Super Mario, die Jung von Matt Nerd für den Süßwarenhersteller umsetzte. Und erst vor wenigen Wochen machte die Agentur Schlagzeilen mit einer Kooperation von Pringles und Super Mario, bei der es unter anderem Litfaßsäulen im silbernen Pringles-Dosen-Look zu sehen gab – in Kombination mit Gamification-Elementen und einer neuen Geschmacksrichtung. „Liebe zum Detail ist das Wichtigste“, sagt Toan Nguyen. „Die Menschen spüren sofort im Herzen, wenn sich etwas anfühlt wie damals, als sie Kinder waren. Das ist wie der Moment, wenn man einen Song hört und dann Bilder von früher aufgehen.“  

Der aktuelle Spot von Haribo ist der Beweis, dass die Marke nicht nur Kinder froh macht. (© Haribo)

Schatz für das Storytelling 

Dabei spielt auch Social Media eine wichtige Rolle – denn Kidulting-Themen wie „Paw Patrol“-Sneaker oder limitierte Fruchtgummi-Editionen bieten einen wahren Schatz fürs Storytelling und viralen Content. Allein die Deichmann-Sneaker mit Welpen-Design generierten etwa drei Millionen Videoaufrufe, 17.000 Kommentare, 87.000 Likes und 6725 Saves auf Social Media – und unzählige Anfragen. „Reicht es, wenn ich 4 Uhr vor dem Laden stehe?“, kommentierte eine Userin am Tag vor dem Launch. Damit das innere Kind glücklich ist, stehen manche sogar mitten in der Nacht auf. Eine Chance, die sich Marken nicht entgehen lassen sollten. 

(jag, Jahrgang 1980) ist freie Autorin und in der Marketingwelt zuhause. Seit ihrem Studium begeistert sie das Thema, denn es steht einfach nie still! Was heute ein Trend ist, kann übermorgen Standard sein – oder wieder weg vom Fenster. Als waschechte Münchnerin ist sie ihrer Heimat natürlich (mit Ausnahmen in Frankreich und Regensburg) treu geblieben: #schönstestadtderwelt!