Mediaforscher: „Treue-Punkte führen nicht zu treuen Kunden“ 

Das Handelsmarketing wird durch digitale Kanäle facettenreicher, aber auch aufwändiger. Die Diskussion um Papier- versus elektronische Prospekte ist ein Beispiel dafür. Wie welche Werbung wirkt und was effiziente Kommunikation ausmacht, erläutert Mediaforscher Dirk Engel im Interview.
Dirk Engel
“Kein Print ist nicht die Lösung, wir müssen über ‘Smart Print’ nachdenken”, sagt Mediaforscher Dirk Engel. (© Natalie Färber)

Printprospekte haben einige Schwächen: Teuer gewordenes Papier muss beschafft und bedruckt, danach (personal)aufwändig verteilt werden. Neben diesen direkten Posten sind die durch Produktion, Logistik und Entsorgung entstehenden Umweltkosten zu berücksichtigen. Andererseits verbraucht auch Digitales wertvolle Ressourcen. Mehrere Handelsunternehmen wollen ihre Papierprospekte bald einstellen oder verzichten bereits darauf. Ist das wirtschaftlich und fürs Marketing sinnvoll? Mediaexperte Dirk Engel sagt, wie werbewirksam unterschiedliche Kommunikationskanäle und -formate sind und warum „kein Print nicht die Lösung ist“.   

Herr Engel, einige große Händler wie Obi und Rewe verzichten auf gedruckte Prospekte. In einem Satz gesagt: Warum ist das eine gute Idee?  

Das Geschäftsmodell, möglichst viel Papier in die Briefkästen zu bringen, um einige Kunden zu erreichen, ist alles andere als ressourcen- und umweltschonend. 

Und warum ist es gleichzeitig auch eine schlechte Idee?  

Prospekte werden von den Verbrauchern geschätzt und genutzt, sie sind eine wirksame Werbemaßnahme. 

Handzettel digitalisieren statt zu drucken: Ist das im Kern wirklich nachhaltiger? 

Das Problem ist komplex. Das ganze System digitaler Medien verbraucht Ressourcen. In Smartphones sind seltene Erden, die anders als Bäume, nicht nachwachsen. Welche Medien nachhaltiger sind als andere, ist derzeit schwer zu entscheiden – die verschiedenen Medienvertreter argumentieren mit unterschiedlichen Quellen, eine Vergleichbarkeit ist schwierig. Hier wäre eine einheitliche Messung notwendig – genauso wie Konzepte, wie man Nachhaltigkeit und Klimaaspekte zukünftig besser berücksichtigt. 

Werden Menschen, die sich weniger online informieren, durch „Digital pur“ ausgegrenzt? 

Das werden sie schon seit einiger Zeit in vielen Bereichen. Allerdings wird der Teil der Bevölkerung, auf den das zutrifft, immer kleiner. Während es bei fast allen anderen Werbemedien so ist, dass sich Menschen durch Werbung gestört fühlen, sehen viele Prospekte als wichtige Information. Rewe und die anderen Prospekt-Verzichter nehmen in Kauf, dass einige treue Kunden sich abgehängt fühlen. Dem stehen aber auch neue Kundensegmente gegenüber, die vielleicht bisher nicht so gut erreicht wurden. 

Mit Blick auf die Werbewirkung: Was schneidet besser ab, der gedruckte Handzettel oder das elektronische Prospekt? 

Ganz klar das gedruckte Prospekt, dass zeigen viele Studien und die Erfahrung. Das elektronische Prospekt ist nur eine Möglichkeit der digitalen Kundeninformation, alleine kann es Prospekte nicht ersetzen. Im Zusammenspiel mit anderen digitalen Kanälen wie App, Newsletter, Social Media, Website, Prospekt-Portale und Preisvergleichsseiten schon eher, doch kommen zusätzliche Marketing-Aufgaben hinzu: Kunden-Apps müssen etwa bekannt gemacht, Download und die regelmäßige Nutzung müssen stimuliert werden. 

Wie sieht es aus, wenn es um Markenbildung und -treue geht? 

Viele hoffen darauf, das Kunden-Apps die Treue zum Supermarkt steigern. Doch die meisten werden eine Vielzahl von Handels-Apps auf dem Smartphone haben. Deren Nutzung wird oft mit Coupons und Rabatten erkauft – die Psychologen nennen das eine extrinsische Motivierung. Das verhindert die intrinsische Motivation. Die Verbraucher werden noch mehr darauf trainiert, auf Boni, Rabatte, Gutscheine et cetera zu achten und möglichst viele Chancen zu nutzen. Treue-Punkte führen nicht zu treuen Kunden. 

Wer Printwerbung abschafft und das mit Nachhaltigkeitsaspekten begründet, kann sich als fortschrittlich und verantwortungsbewusst in Sachen Klima positionieren. Wird sich das wirtschaftlich – zumindest mittel- und langfristig – lohnen?  

Die Rechnung ist schwierig: Kostenersparnisse durch geringere Druck- und Verteilkosten und der Gewinn neuer Non-Print-Kunden stehen auf der einen Seite. Verluste durch nicht mehr erreichte Print-Only-Nutzer und zusätzliche Marketingkosten für die Bewerbung der digitalen Kanäle finden sich auf der anderen Seite. Für die ersten Print-Verzichter wird es schwierig, deren print-treuen Wettbewerber könnten sogar profitieren. Langfristig wird sich alles wahrscheinlich schon einpendeln. 

Ikea und Otto haben schon vor Jahren ihre Kataloge eingestellt, dem Vernehmen nach ohne große Einbußen. Ist das ein Vorbild für andere Händler? 

Kataloge haben eine andere kommunikative Funktion wie Prospekte. Letztere zeigen aktuelle Angebote, Kataloge hingegen laden zum Blättern und zum Träumen ein, sie können Wünsche wecken. Aber sie sind sehr aufwändig in der Produktion und Verteilung. Anscheinend sind eine gute Website, Newsletter und gezielte Print-Mailings bei manchen Handelsunternehmen ein ausreichender Ersatz für die dicken Kataloge. Es hängt auch von den Zielgruppen und der Branche ab – in Zeiten von „Fast Fashion“ ist ein Katalog zu träge, während es in Zielgruppen von 65plus immer noch viele Freunde des klassischen Versandhandels mit Postkarte und Telefon gibt. 

Durch die digitalen Kanäle haben Werbetreibende heute mehr Möglichkeiten, ihren Media-Mix zu gestalten. Führt das zu höherer Reichweite und auch mehr Umsatz – oder vor allem zu mehr Kosten? 

Die Gleichung – mehr Medien = mehr Reichweite = mehr Umsatz – geht nicht auf. Heute müssen viel mehr Kanäle eingesetzt werden, um überhaupt die gewünschte Reichweite zu erzielen. Je mehr Medien es gibt, desto mehr sinkt die durchschnittliche Reichweite jedes einzelnen Mediums. Diese Fragmentierung bringt höhere Transaktionskosten. Der harte Wettbewerb im Handel führt zu höheren Marketingkosten und geringeren Margen. Neben der Angebotswerbung müssen Markenimages aufgebaut und gepflegt werden. Eins darf man aber nicht vergessen: Marketingbudgets sind keine Kosten, sondern Investitionen in eine langfristige Positionierung. 

Die GfK hat in einer Studie herausgefunden, dass der Trend zu einer hybriden Nutzung von gedruckten und digitalen Prospekten geht, aber nur fünf Prozent der Bevölkerung sich rein online über Angebote und Produkte informiert. Ist der Abschied vom Handzettel voreilig? 

Ja, wenn man die derzeitigen Nutzungsmuster der Verbraucher anschaut. Die Menschen wollen heute ein breites Repertoire an Kommunikationsmöglichkeiten, die ihren Bedürfnissen und nicht denen der Unternehmen entsprechen. Deshalb wäre es sinnvoller nachzudenken, wie Printwerbung zeitgemäßer werden kann. Effizienter, ressourcenschonender, relevanter für die Verbraucher. Kein Print ist nicht die Lösung, wir müssen über „Smart Print“ nachdenken. 

Roland Karle (rk, Jahrgang 1966) schreibt über Marken & Medien, Beruf & Sport. Hat BWL/Marketing an der Uni Mannheim studiert, bei einer Tageszeitung volontiert und arbeitet seit 1995 freiberuflich. Er porträtiert gerne Menschen in Zeilen und Märkte durch Zahlen. Hang zum Naschkater und Volltischler. Im früheren Leben ein fröhlicher Libero.