Daten, was nun?

Ohne Daten geht schon lange nichts mehr im Marketing. Doch mit ihnen allein ist Marketingschaffenden auch nicht geholfen, viele vertrauen Daten nicht einmal. Dabei können Unternehmen selbst ihre Qualität beeinflussen.
Kunstwerk von Refik Anadol
Der Medienkünstler Refik Anadol erschafft mithilfe von datengetriebenen KI-Algorithmen imposante Kunstwerke. (© Refik Anadol)

Heute werden Daten als „Heiliger Gral“ in vielen Marketingbereichen betrachtet. Denn mit ihnen lassen sich Ziele definieren, Entscheidungen treffen, Erfolge messen, Fehlerquellen eliminieren sowie Kund*innen besser ansprechen und verstehen. Wie wichtig Daten sind, verdeutlicht der Ausdruck, jene seien das neue Öl. Doch Daten bergen das Problem, dass sich mit ihnen nicht immer die richtigen Schlüsse ziehen lassen. Viele Marketingexpert*innen vertrauen ihnen offenbar nicht einmal.

Ein Grund liegt darin, dass zwar immer mehr Daten generiert und erhoben werden, dies jedoch nicht zwangsläufig bedeutet, dass mehr Daten auch zu mehr Erkenntnissen führen. Im Jahr 2011 wurde das weltweite Datenvolumen auf mehr als ein Zettabyte geschätzt – eine Maßeinheit mit 21 Nullen. Bis 2025 soll es auf 175 Zettabyte anwachsen. Für Unternehmen wird es demnach zukünftig immer wichtiger, relevante Daten von irrelevanten zu unterscheiden.

„Viele Daten, die gehandelt werden, sind platte Interaktionsdaten“, sagt Sarah Seyr. Die promovierte Psychologin ist Co-Founder und Chief Customer Officer von Aivie Marketing Automation und Dozentin für Customer Experience und Human Machine Interaction an der Hochschule Luzern. Zu ihren Schwerpunkten zählen Personalisierung und Automatisierung mit KI. „Alles, was online trackbar ist, wird als Datenpunkt verkauft. Das heißt aber noch nicht, dass das relevant ist“, sagt die Daten-Expertin.

Was relevant ist, müsse jedes Unternehmen für sich definieren. Doch hier besteht das nächste Problem: Viele Unternehmen wissen nicht, was für sie relevant ist. In einer kürzlich von ihr durchgeführten Umfrage fand Seyr heraus, dass das Thema Datenkompetenz zwar von den meisten Senior-Marketing­expert*innen als überaus wichtig betrachtet wird. „Aber sie haben gar kein Verständnis davon, was das eigentlich bedeutet.“

Alles, was online trackbar ist, wird als Datenpunkt verkauft. Das heißt aber nicht, dass das relevant ist.

Sarah Seyr, Co-Founder und Chief Customer Officer von Aivie Marketing Automation

Das Misstrauen in Daten ist groß

Nicht nur die unterschiedliche Qualität der Daten stellt ein Problem dar. Jedes Jahr wächst der Markt an unterschiedlichen Analyse- und Datenbank-Anbietern. Schließlich muss die Masse an Daten nicht nur erhoben, sondern auch analysiert, bewertet, strukturiert und miteinander verglichen werden. Kein Wunder, dass heutzutage viele behaupten, nicht „Daten“ seien das neue Öl, sondern „Informationen“. Dabei haben viele Marketingentscheider*innen kein Vertrauen in Daten.

In einer Studie des Analytics-Anbieters Adverity, bei der 964 Marketingschaffende und Datenanalyst*innen in den USA, Großbritannien und Deutschland aus den Branchen E-Commerce, Agenturen sowie IT- und Softwaredienstleistungen befragt wurden, gab fast ein Drittel der Marketingexpert*innen an, den Daten nicht zu vertrauen, die sie als Entscheidungsgrundlage für ihre Kampagnen erhielten. Unter den Datenanalyst*innen waren es sogar 41 Prozent. Die Kluft in der Einschätzung der Datenqualität wird auf der weiteren Führungsebene noch größer: Hier sind es sogar 51 Prozent der CTOs und CDOs, die kein Vertrauen in die Daten haben, verglichen mit 34 Prozent der CMOs.

Die Studie konstatiert: Eine der größten Ursachen für das Misstrauen in Marketingdaten sei der noch immer weitverbreitete manuelle Umgang mit Daten. „Das stellt nicht nur eine große Herausforderung für viele Unternehmen dar, sondern wird auch von circa 40 Prozent der Marketer und Datenanalysten als zu zeitaufwendig empfunden“, so die Studie. Diese Meinung teilten auch zwei Drittel der Befragten in Vorstandspositionen. Im modernen Marketing könne sich niemand eine Wartezeit leisten, „weil jemand händisch Tabellenkalkulationen durchforstet“. Manuelle Datenverarbeitung ist demnach anfällig für Fehler und Ineffizienz.

Undurchsichtige Erhebung von Daten sorgt für Misstrauen

Ein anderer Grund für das große Misstrauen in Daten liegt nach Einschätzung Seyrs darin, dass Marketingexpert*innen Prozesse der Datenerhebung nicht durchschauten. „Erhobene Daten sind immer nur Annäherungswerte. Wenn ich drei verschiedene Tools habe, kann es sein, dass drei verschiedene Zahlen herauskommen. Damit einher geht eine Entwertung der Daten unsererseits.“ Zwar arbeiteten alle Technologieanbieter nach bestem Wissen und Gewissen, doch es blieben Unschärfen und Blind Spots. „Es gibt kein hundertprozentig sauberes Tracking. Ein Ergebnis ist nicht gleich eine Erkenntnis, demnach Daten nicht gleich Informationen“, so Seyr.

Um die bestmögliche Qualität der Daten zu erhalten, sollten Unternehmen Daten in viel größerem Umfang erheben, als sie es bisher tun. Zwar haben sie noch etwas Zeit, bis Third Party Cookies nicht mehr erhoben werden dürfen. „Wir leben aber nicht in einer Welt ohne Cookies“, sagt Seyr. Ihrer Meinung nach kommen die „goldenen Daten“ aus den Owned Channels über First Party Cookies. Doch hier liegt ein Problem: Viele im Marketing haben es verpasst, Strukturen aufzubauen, um diese Daten zu erheben. „Sie sind lieber Social Media und Search hinterhergelaufen und haben auf Conversions gehofft. Die Daten von Google oder Facebook werden sie aber nie bekommen“, sagt die Daten-Expertin. Ist Misstrauen gegenüber Daten also weiterhin gerechtfertigt?

Darauf deuten jedenfalls die Ergebnisse einer weiteren Umfrage von Adverity hin. Für diese wurden im April 2022 insgesamt 300 CMOs in der DACH-Region, den USA sowie dem Vereinigten Königreich befragt. Diesmal gaben 38 Prozent der Entscheider*innen an, dass das Fehlen der richtigen Technologie für die Gewinnung wertvoller Erkenntnisse aus den Daten ein Hindernis darstelle.

Quelle: Adverity

Transparenz kann Vertrauen schaffen

„Misstrauen sollte nicht notwendig sein, aber ein gesundes Maß an Vorsicht im Umgang mit Daten sollte jeder haben – vor allem dann, wenn Daten manuell bearbeitet werden“, sagt Timm Jäger, Geschäftsführer der EintrachtTech. Die Digitaltochter des Fußball-Bundesligisten Eintracht Frankfurt ist für die Entwicklung und Umsetzung der klubeigenen Digitalstrategie verantwortlich. Für Timm ist klar: Vertrauen in Daten kann vor allem durch Transparenz erzeugt werden.

„Eine fehlende Transparenz in der Datengenerierung sollte – solange ein Unternehmen DSGVO-konform agiert – kein Treiber von Misstrauen oder Unsicherheit innerhalb eines Unternehmens sein“, so Jäger. „In unserem Fall bedeutet ein starker Fokus auf softwareseitige Eigenentwicklungen mit unserer Plattform und App eine entsprechend hohe Transparenz über Datengenerierung, Datenspeicherung und Analyse bis zur Ableitung von Handlungsempfehlungen und Maßnahmen.“

Auch interne und externe Kontrollinstanzen würden das Vertrauen erhöhen und dafür sorgen, dass man sich selbst konstant hinterfrage. „So haben wir beispielsweise einen Datenbeirat mit Mitgliedern unserer diversen Stakeholder ins Leben gerufen, in dem die Generierung und Verwendung von Daten diskutiert wird“, sagt Jäger. Grundsätzlich sei das Vertrauen in die eigenen Daten und deren Verwendung hoch, da man keine Datensätze künstlich anreichere und somit auch bei den Nutzer*innen ein entsprechendes Vertrauen in den Umgang mit ihren Daten erzeuge. Zum Thema Vertrauen und Daten wird Timm Jäger am 3. November auf dem Deutschen Marketing Tag in Frankfurt sprechen.

Behindern Daten Kreativität?

Was die Studie auch zeigt: 42 Prozent der CMOs befürchteten sogar, dass Daten die Kreativität ihrer Marketingteams behinderten. CMOs seien sich uneinig darüber, ob die exponentiell zunehmende Komplexität und Menge an Daten der Kreativität helfe oder sie behindere, heißt es in der Studie. Ob und wie das datengetriebene Marketing der Kreativität schadet oder sie vielleicht sogar fördert, ist schon lange ein streitbares Thema. Lange bestand die Ansicht, dass MarTech-Tools das Sammeln und Auswerten von Daten vereinfachen, während sie sich schwer mit Kreativität und Innovation tun. Dafür müsse der Mensch weiterhin die letzte Meile gehen. Doch ist das immer noch so?

„Maschinen haben uns schon lange überholt“, stellt Daten-Expertin Sarah Seyr fest. Das machten auch Untersuchungen deutlich, bei denen eine künstliche Intelligenz sowie Freelancer angehalten waren, künstlerische Aufgaben umzusetzen. Das Ergebnis: Die KI war den Kreativen in allen Belangen überlegen. „Auch Kreativität ist Datenverarbeitung. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, warum man einen Menschen noch briefen sollte“, so Seyr.

Ihrer Ansicht nach stellten auch Agenturen nur noch die menschliche Schnittstelle zu den Kund*innen dar. „Eigentlich müssten Agenturen nur die Bedürfnisse ihrer Kunden aufnehmen und damit ihre Maschinen füttern, um an kreative Lösungen zu gelangen. Allerdings kommen sie noch nicht von ihrem Selbstverständnis weg, dass sie selbst die Ideengeber sind.“ Bedeutet das den Abschied des Menschen aus der Kreativwirtschaft?

Danach sieht es derzeit eher nicht aus. Schließlich kommen Technologien noch an Grenzen, die die Realität des Menschen ausformen: Emotionen, Träume, Lebenserfahrung. Auch Kommunikation und der Austausch von Informationen stellen für Algorithmen ein Hindernis dar, schließlich können sie sich nicht untereinander verknüpfen, ohne dass ein Mensch dafür sorgt. Auch für Seyr ist das noch nicht der Fall. „Zwar können Programme künstlerische Produkte wie Texte, Bilder oder Schnitte besser als Menschen. Aber wir sind noch nicht gut darin, die Maschine mit den richtigen Daten zu füttern.“ Zwar wäre die Technologie vorhanden, einen „Siri Marketer“ zu beauftragen, „aber die Anwendung dafür noch nicht.“ Und schließlich bleibt die Scheu davor, die Kontrolle an Maschinen abzugeben. „Menschen wollen Menschen. Zwar gewöhnen wir uns immer mehr an Technologien, aber ein Interview mit einer Maschine hätte ich nicht führen wollen“, sagt Seyr. Es gibt nicht wenige in der Kreativbranche, die hoffen, dass das auch so bleibt.

(amx, Jahrgang 1989) ist seit Juli 2022 Redakteur bei der absatzwirtschaft. Er ist weder Native noch Immigrant, doch auf jeden Fall Digital. Der Wahlberliner mit einem Faible für Nischenthemen verfügt über ein breites Interessenspektrum, was sich bei ihm auch beruflich niederschlägt: So hat er bereits beim Playboy, in der Agentur C3 sowie beim Branchendienst Meedia gearbeitet.