Kann Kundenzentrierung mehr als nur die nächste Marketing-Fata-Morgana sein?

Eine Google-Suche nach „customer centric“ ergibt rund 90 Millionen Treffer. Das zeigt die Bedeutung dieses Begriffs in Zeiten der digitalen Transformation. Und seine Beliebtheit. Wobei „Beliebtheit“ aus Sicht von Alessandro Panella, Geschäftsführer der Serviceplan Consulting Group, einen gewissen Zynismus gegenüber der inflationären Nutzung von Begriffen wie „Kundenorientierung“ oder „Kundenzentrierung“ ausdrückt.

Von Gastautor Alessandro Panella, Geschäftsführer der Serviceplan Consulting Group

Dieser Zynismus beruht nicht nur auf persönlichen Erfahrungen mit Unternehmen, die sich als kundenfreundlich bezeichnen, aber nicht in der Lage sind, dieses Versprechen zu halten, sondern auch auf folgenden Zahlen:

  • Obwohl 75 Prozent der Unternehmen sich als kundenorientiert bezeichnen, stimmen nur 30 Prozent der Kunden dieser Einschätzung zu. Schade, denn Kunden, die sehr zufrieden mit dem Produkt oder dem Serviceerlebnis sind, geben bis zu 140 Prozent mehr Geld aus1.
  • Kunden mit einer starken Beziehung zum Anbieter wechseln dreimal seltener zum Wettbewerb, empfehlen die Marke fünfmal öfter weiter, und die Wahrscheinlichkeit steigt um das Fünffache, dass sie zusätzliche Produkte und Dienstleistungen des Unternehmens in Anspruch nehmen2.
  • Der Schaden einer schlechten oder fehlenden Kundenorientierung wird auf 62 Milliarden3 bis 338 Milliarden US-Dollar geschätzt.

„Connecting people. Uniting the world” – mit diesem Spruch wirbt United Airlines. Fatal, wenn dann ein Passagier gewaltsam aus einer überbuchten Maschine geworfen wird. Der Fall hat der Fluglinie nicht nur ein PR-Debakel, sondern auch einen massiven Verlust an Vertrauen sowie von 700 Millionen US-Dollar an Börsenkapitalisierung beschert4. Das Beispiel zeigt, wie schwer es vielen Unternehmen fällt, Kundenzentrierung bei jeder Begegnung mit ihren Kunden zu leben.

Was also können Unternehmen tun, um Kunden und Mitarbeitern zu signalisieren, dass sie Kundenzentrierung ernst nehmen anstatt sie nur zu proklamieren?

1. Kundenzentrierung im Unternehmensleitbild einbetten

Zappos, Ritz Carlton, Disney oder Amazon landen regelmäßig in der Top 10 der kundenzentriertesten Unternehmen der Welt. Warum? Weil sie Kundenzentrierung nicht als die nächste Vorstandsinitiative oder als Priorität eines Bereiches ansehen, sondern als einen untrennbaren Teil im Unternehmensleitbild. Tony Hsieh, der Zappos zu einem der erfolgreichsten Online-Händler der USA formte, hat stets klargemacht, dass seine Mission lautet: „Deliver happiness and not just shoes.“

Diese Brand Purpose hat er in kundenzentrierte Produkte und Services übersetzt. Schon 1999 ermöglichte es Zappos etwa, Schuhe kostenlos zu bestellen und zurückzuschicken – bis zu 365 Tage nach dem Kauf. Und die Mitarbeiter im Call Center werden nicht daran gemessen, wie viele Anrufe sie erledigen, sondern wie zufrieden der Kunde am Ende ist. Klingt nach einer Plattitüde? Wie viele Call Center kennen Sie, bei denen das längste Kundengespräch über sechs Stunden dauerte?

In nicht einmal zehn Jahren machte Hsieh aus einem Unternehmen kurz vor der Insolvenz auf diese Weise ein florierendes Geschäft, das Amazon beim Kauf 1,2 Milliarden US-Dollar wert war. 75 Prozent der mittlerweile über zwei Milliarden Dollar Umsatz kommen von wiederkehrenden Kunden und verschaffen Zappos einen der höchsten Net Promoter Scores überhaupt.

2. Kundenzentrierung in der Organisation einbetten

Hsieh hat von Anfang an die komplette Organisation kundenzentriert strukturiert. Neue Mitarbeiter stellt er auf die Probe: Jeder bekommt nach den ersten zwei Schulungswochen Geld angeboten, wenn er das Unternehmen verlässt. So will Hsieh sicherstellen, dass alle, die das Angebot ablehnen, die Mission wirklich leben.

Sicherlich lässt sich derlei einfacher bei einem Unternehmen der Größe von Zappos als in einem DAX-Konzern umsetzen. Aber Größe als Begründung für fehlende Kundenzentrierung vorzuschieben, ist zu simpel. Schließlich landet der Riese Amazon stets in den Top 5 der kundenzentriertesten Unternehmen.

Aber wer übernimmt die Verantwortung dafür im Unternehmen? Braucht es den bereichsunabhängigen Chief Customer Officer (CCO) oder ist das eine der ureigenen Aufgaben eines CMO? 86 Prozent aller Markenverantwortlichen sind der Meinung, dass sie in Zukunft für die „end to end experience over the customer lifetime“ verantwortlich sein werden5. Unsere CMO-Studie zeigt jedoch, dass die gleichen Verantwortlichen nicht dazu befähigt werden, diese Aufgabe zu übernehmen. Entweder, weil die Budgets dafür nicht in ihrem Verantwortungsbereich liegen, oder weil sie keinen Zugang zu den nötigen Konsumentendaten bekommen. So stimmten in der Studie nur 28 Prozent der CMOs der Aussage zu: „Die Datenhoheit, die ein Agieren im Sinne einer ausgereiften Customer Centricity möglich macht, liegt im Einflussbereich des CMOs.“

Damit Kundenzentrierung für Konsumenten tatsächlich spürbar wird, darf es im Unternehmen keine Siloverantwortung dafür geben. Den CCO oder CMO verantwortlich zu machen, ist zu kurz gedacht. Vielmehr muss der CEO die gesamte Belegschaft dafür mobilisieren.

3. Kundenzentrierung in der Produktentwicklung einbetten

Bei einem Flug nach Kanada mit KLM habe ich ganz persönlich erlebt, wie sehr ein solches Erlebnis leidet, wenn Kundenzentrierung nicht von Anfang an in die Produkt- und Serviceentwicklung eingebettet ist. Meine Kinder starteten in Hamburg, meine Partnerin und ich in München. Treffpunkt zum Weiterflug war Schiphol. Aber es war nicht möglich, eine Reisebegleitung für meine Kinder dorthin zu buchen. Denn die ist nur für die gesamte Strecke buchbar. Begründung: „Unsere Systeme sind so programmiert.“ Damit betrugen die Gebühren nicht 200 Euro, sondern 500 Euro. Und es kam zu der abstrusen Situation, dass ein KLM-Flugbegleiter in Schiphol meine Kinder und mich zum Gate brachte.

Würde ich nach so einem Erlebnis die Airline weiterempfehlen? Auf keinen Fall. Ist der Kundenservice von KLM an der fehlenden Kundenorientierung schuld? Nur auf den ersten Blick. Die Buchungssysteme hätten anders konzipiert werden müssen. Wenn Marketing, Produktentwicklung, Customer Experience und IT von Beginn an gemeinsam über alle Eventualitäten aus Kundenperspektive nachgedacht hätten, wäre solch ein System gar nicht erst entstanden.

Selbst wenn KLM am Buchungssystemen nichts mehr ändern kann, wäre dem Kundenservice damit geholfen, wenn er in solchen Fällen befähigt wäre, den Kunden zufriedenzustellen. Auch mit solchen, leider viel zu selten praktizierten Regelungen kann Kundenzentrierung erfolgreich hergestellt sein. So wie bei der Hotelkette Ritz Carlton. Ihre Mitarbeiter dürfen bis zu 2000 Dollar für Geschenke, Upgrades oder kostenlose Übernachtungen ausgeben, um Kunden zufriedenzustellen – ohne Rücksprache mit einem Vorgesetzten. Und ohne, dass die Zahl der Fälle begrenzt wäre.

Unternehmen wie Ritz Carlton oder Zappos beweisen, dass Kundenzentrierung keine Fata Morgana sein muss. Dafür muss sie aber im Kern der Unternehmensstrategie verankert sein. Und auf mindestens drei Ebenen: im Leitbild, in der Organisationsstruktur sowie bei der Produkt- und Serviceentwicklung.

Quellen:

  1. Harvard Busines Review “The Value of Customer Experience, Quantified”, 2014
  2. Kantar “Ist Ihr Unternehmen so kundenzentriert wie Sie glauben?”
  3. com “The true cost of bad customer service”
  4. Getcrm “The cost of bad customer experience”
  5. The Economist Intelligence Unit „The path to 2020: Marketers seize the customer experience“


Über den Autor: Alessandro Panella ist Geschäftsführer der Serviceplan Consulting Group. Davor war er Chief Strategy Officer bei Grey Germany, wo er die strategische Planung leitete. Er war verantwortlich für die Führung und Weiterentwicklung des Planning-Teams sowie die strategische Markenberatung und Entwicklung neuer Studien und Tools. Zudem betreute er internationale Kunden wie Procter & Gamble.