ITB in Berlin: Das zweischneidige Schwert von Virtual Reality für die Reisemarken

Der Reisekonzern Thomas Cook war in Europa „first mover“, als er im vergangenen Jahr in vielen seiner Reisebüros Datenbrillen anbot, mittels derer man ausgewählte Reiseziele virtuell im 360 Grad Modus erleben konnte. Was die Industrie der Computerspiele als Technologie langsam zum Standard entwickelt wird, kommt in der Reisebranche gerade zögerlich an. Bei der ITB in Berlin, die heute beginnt, wird VR wieder zum Einsatz kommen.

Von Gastautor Christoph Engl, BrandTrust

Lohnt sich diese Innovation für die Marken der Reisebranche und werden sie dadurch an Begehrlichkeit gewinnen? Haben jene Recht, die darin sogar eine Gefahr für die wirkliche Reise sehen, weil man bald alles in hochauflösender Echtheit auch vom Sofa aus erleben kann?

Meine Einschätzung: Es wird wahrscheinlich ganz anders kommen als gedacht. Virtual Reality (VR) hat eine große Zukunft für das Reisen; allerdings könnte dies in einer exzellenten Kombination zwischen Realität und Virtualität liegen. In der verfallenen Inkastadt Machu Picchu stehen und mit einer mitgebrachten Datenbrille diesen Inspirationsort in Peru als Rekonstruktion erleben zu können, wäre eine völlig neue Qualität des Reiseerlebnisses. Und gleichzeitig macht sich schon der Gegentrend bemerkbar: „Digital-Detox“ wird zu einer neuen Form der Luxusreise avancieren, während der alles an Digitalem bewusst ausgeschlossen wird.

Neue Art der Darstellung

Die ITB in Berlin hatte schon im vergangenen Jahr gezeigt, dass sich viele der Anbieter von Reisen die neue VR-Technologie zu Nutze machen wollen: British Airways, Lufthansa, Thomas Cook, Lufthansa, das Land Österreich und viele andere warteten auf ihren Ständen mit den noch neuartig anmutenden Brillen der Rundumsicht auf. Man könne sich in wenigen Minuten vollkommen auf ein neues Reiseziel einlassen und dieses so erleben als wäre man schon da – so lautet die allgemeine Begründung. Ohne Frage: in puncto Vorausschau und Information bietet diese neue Art der Darstellung einen neuen Standard, der bisher nur aus den Filmen im 3D-Format bekannt ist – und ermöglicht zudem, dass sich der Betrachter im 360 Grad-Modus während des Schauens dorthin bewegen kann, wo ihm beliebt. Jeder wird damit sein eigener Regisseur. Der Effekt, der sich danach einstellt: Sehnsucht, das Gleiche erleben zu können – von der Phantasie zur Realität. Sie wird damit zu einem neuen Mittel werden das in der touristischen Inspirationspalette eine wichtige Rolle spielen wird. Wie so oft wird das Entscheidende nicht das „Was und Ob“ sein, sondern das „Wie und Warum“.

VR erhöht nicht immer die Begehrlichkeit

Marken leben davon, ihre Begehrlichkeit zu erhöhen. Dies gelingt, wenn Lebensknappheiten von Menschen, die zu ihren Kunden werden, bedient werden. Zwei der großen Lebensknappheiten der Reisebranche sind Phantasie und Sehnsucht. Die Reisevorfreude ist immer noch die Schönste. Eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie es wirklich sein wird, gehört zu den wunderbaren Momenten des Lebens. VR Produkte können diese wichtigen Attraktivitätstreiber fördern – oder zerstören. Ebenso kann die Reisebranche VR-Technologie nutzen, um ihren Kunden bei Angeboten vor Ort eine neue Dimension der Vorstellungskraft zu ermöglichen. Neu ist ja nicht schon automatisch innovativ. Aber dieser Gefahr setzen sich Marken der Reisebranche aus, wenn sie VR nur deshalb einsetzen, weil sie Neues verspricht. Innovativ wäre hingegen, wenn diese Technologie drei Faktoren bedient: Sie ist neu, sie macht Sinn und sie passt zur Marke. Und: Sie darf eine Kundengewohnheit nicht zerstören ohne diese durch eine bessere Lösung zu ersetzen.

1. VR muss die Reisesehnsucht erhöhen

Die Fehler sind jetzt schon absehbar (und sie werden jenen gleichen, als seinerzeit Prospekte durch Webseiten von Hotels und Destinationen ablästen, ohne diese neue Medien wirklich in ihren neuen Möglichkeiten zu verstehen. Also wird man in VR-Brillen Informationsfilme in bester Qualität zu sehen bekommen, möglicherweise mit gesprochenem Text und Hintergrundmusik… Wer VR richtig versteht und nutzt, der wird dafür eine noch viel bessere Regie und Inszenierung brauchen als bisher. Sehnsucht wird nicht durch das Schauen auf die Realität erzeugt. Sehnsucht erweckt das Hoffen auf den Traum. Dies zu inszenieren, wird eine große Kunst sein, welche erheblichen Einsatz von Geist und Geld kostet. Alles andere würde jedoch den Aufwand in diese neue Technologie nicht rechtfertigen.

2. VR muss Bilder erzeugen und nicht zeigen

Das Verlockende: Endlich kann man die Destination noch deutlicher und in 360 Grad Perspektive zeigen, was bisher in dieser Form noch nicht möglich war. Wenn VR nur das schafft, dann hat man als Reisemarke verloren. Der Anspruch wäre, VR als Zugang zu einer neuen Dimension des Erlebens zu nutzen. Menschen kaufen das Wünschenswerte, Träume und Sehnsüchte – und Marken müssen auf dieser Ebene agieren. Dafür kann VR ein gutes Mittel sein, wenn es neue Bilder erschafft und neue Räume der Betrachtung erschließt. Die Multisensorialität mit Bild, Ton und selbstgewählter Perspektive kann dabei helfen – aber es ist dem System nicht immanent. Am Vulkankrater des Teide in Teneriffa auf 3700 Metern Höhe stehen und mit einer VR-Brille den (eben nicht sichtbaren) Vulkanausbruch des Jahres 1909 mitzuerleben, wäre eine solche neue Erlebnisdimension. VR hat das größte Potential im Verbinden vor Realität und Virtualität.

3. VR muss zur Marke passen

„Essen wird über lange Sicht das sein, was uns im Zeitalter der immer schnelleren Digitalisierung noch mit der analogen Welt verbindet.“ Für den skandinavischen Starkoch René Redzepi wäre die Welt der Virtual Reality keine Option, um seiner Marke „Noma“ eine größere Begehrlichkeit zu verleihen. Vielmehr hat er vor wenigen Wochen seinen Gourmettempel in Kopenhagen trotz größter Nachfrage geschlossen, „weil es davon schon zu viele Bilder gibt“. Mit einem neuen Konzept in ganz anderer Lage und mit einem ganz anderen Anspruch wird er für seine Fans eine neue Welt des Wünschenswerten im Dezember diesen Jahres eröffnen. Hotels und Destinationen, welche für sich Geheimnis und Entdecken als Markenkern beanspruchen wollen, würden mit VR-Brillen und 360 Grad-Filmen über ihr Angebot ihrer Marke eher schaden als nützen. Wer sein Geheimnis im Vorfeld lüftet, verliert zu viel an Spannung und opfert seine Attraktivität vermeintlicher Innovation.

Was kommt, wenn alles digitalisiert ist? Keine andere Branche hat auf diese Frage bessere Antworten als die Reisebranche. Wenn alles digitalisiert ist und wir Digitalität von der Welt nicht mehr unterscheiden können, weil sie die Welt ist: dann kommt wieder die Reise als reale Erfahrung anderer Welten. Diese muss man riechen, diese muss man hautnah spüren und von diesen muss man lange Geschichten erzählen können. Offline-Reisen wird zu einer neuen Reisekategorie werden.

Zum Autor: Der Tourismusmarken-Experte Christoph Engl ist Geschäftsführer bei BrandTrust. Während seiner Tätigkeit als Direktor von Südtirol Marketing hat er die Marke Südtirol massgeblich geprägt und mit aufgebaut. Er ist Autor des Buches „Destination Branding: Von der Geografie zur Bedeutung“, das mit dem ITB BuchAward 2017 ausgezeichnet wurde.