Transformation: „Früh scheitern, dann wird es nicht so teuer“

Die digitale Transformation verunsichert viele Entscheider. Marcus Greye, Executive Creative Director der Digitalagentur Torben, Lucie und die gelbe Gefahr (TLGG), skizziert im Interview mit absatzwirtschaft die wichtigsten digitalen Trends, lobt den Mittelstand und wünscht sich insgesamt mehr Mut.
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TLGG-Mann Kreye: "Die deutsche Wirtschaft ist oftmals sehr verkopft." (© TLGG)

Customer Centricity, künstliche Intelligenz, Blockchain – es kursieren viele Schlagworte im Marketing. Welche Trends gehören für Sie in die Top 3?

Eine ultimative Top 3 kann es nicht geben, dafür sind schlichtweg zu viele unterschiedliche Trends im Gange – im Kleinen wie im Großen. Vertical Video ist gerade die Nummer eins im Content Marketing. Denn die unterschiedlichen Zielgruppen, selbst ältere Generationen, verbringen enorm viel Zeit am Smartphone. Und viele Marken stellen derzeit fest, dass klassische Medien abseits von Mobile nicht eins zu eins so funktionieren. Daneben ist – Stichwort KI – auch Big Data immer noch ein sehr großes Thema, das Unternehmen nicht einfach mal schnell lösen können. Viele Marktteilnehmer hatten die Hoffnung, da schnell anschlussfähig zu sein. Aber sie merken nun, dass es von der reinen Sammlung der Daten bis zum konkreten Business Case oft ein weiter Weg ist. Zu guter Letzt bleibt Social ein wichtiger Trend. Dabei ist gerade für die Generation Z das Netzwerk Tik Tok der absolute Renner.

Sind die Marketing-Abteilungen deutscher Unternehmen für die Trends bereit?

Das ist sehr unterschiedlich. Manche Unternehmen müssen noch im Bereich Social Media aufgeklärt werden, andere sind schon viele Schritte weiter. Gerade der Mittelstand hat in den vergangenen Jahren einen echten Sprung nach vorne gemacht. Auch die berühmten Silos werden da immer weiter aufgebrochen. Aber ich bin trotzdem erstaunt, wie abgeschottet häufig noch PR- und Marketing-Abteilungen sind – und wie wenig die mit den Kollegen zusammenarbeiten, die das direkte Business machen. Das ist nicht richtig.

Woran liegt das?

Da gibt es zwei Aspekte. Zum einen wird in manchen Unternehmen einfach noch nach alten Modellen gearbeitet, sprich: Die Business-Abteilung bewertet Zahlen, gibt auf dieser Grundlage Budgets frei, das wird dann aufmerksamkeitsstark in klassisches Marketing investiert. Doch danach reißt der Faden ab. Dann kommen die Kollegen, die in komplett getrennten Abteilungen arbeiten und beispielsweise den Verkauf gestalten, mit ihren eigenen Ansätzen ohne Bezug auf das Marketing. Es ist einfach nicht sinnvoll, die Abteilungen Marketing und Vertrieb getrennt voneinander zu betrachten.

Und der zweite Aspekt?

Der heißt Geschwindigkeit. Viele Unternehmen befinden sich in wahnsinnig komplexen Entscheidungssituationen, gerade bei der Bewertung von digitalen Plattformen. Ist Facebook nun in oder out? Muss ich als Marke wirklich auf Tik Tok präsent sein? Dann kommt noch das Thema Data dazu und Entscheider fragen sich, ob das Unternehmen an Salesforce angeschlossen sein sollte. In diesem Gefüge an Themen herrscht manchmal eine gewisse Orientierungslosigkeit und ich habe zudem das Gefühl, dass die einzelnen Abteilungen unterschiedlich schnell arbeiten.

Können Sie das konkreter erklären?

Die Business-Abteilung beschließt manchmal etwas – auf Basis einer aktuellen, wichtigen Erkenntnis. Aber ehe sich dann das Marketing bewegt, dauert es aufgrund von wenig abgestimmten Prozessen manchmal einfach zu lang. Die Geschwindigkeit der Digitalisierung erzeugt natürlich Druck. Doch die Herausforderung liegt auch in den unterschiedlichen Geschwindigkeiten der diversen Unternehmensbereiche. Bei Problemen, die vermeintlich von außen kommen, ist die Ursache in Wirklichkeit meistens in einer falschen Unternehmensstruktur zu finden.

Betrifft das B2B- und B2C-Unternehmen gleichermaßen?

Einen großen Unterschied gibt es da nicht. B2B war und ist in einer vermeintlich komfortablen Situation: Wenn sich beide Seiten langsam bewegen, schmerzt es nicht so. Aber gerade B2B-Unternehmen haben wahnsinnig an Geschwindigkeit aufgenommen, da finden aktuell große Umwälzungen statt. Diese Veränderungen haben auch Auswirkungen auf die Art der Menschen, die in den Unternehmen gefragt sind.

Welche?

Datenspezialisten sind wahnsinnig gefragt. Das ist der zukunftsträchtigste Job im Business. Denn egal wieviel künstliche Intelligenz und Machine Learning es geben wird: Für den richtigen Kontext und die Übersetzung der Daten in Handlungsempfehlungen werden noch lange Zeit Menschen gebraucht. Um die Data-Talente wird momentan bekanntlich hart gerungen, entsprechend hohe Gehälter werden für sie veranschlagt. Gerade kleine und mittelständische Unternehmen müssen sich daher gut überlegen, ob sie langfristig entsprechende Arbeitskräfte einstellen können und wollen.

Ist mangelnde Investitionsbereitschaft aber nicht auch eines der größeren Probleme in der digitalen Transformation?

Investitionsbereitschaft ist häufig schon vorhanden, aber eben vor allem bei denen, die den Druck am meisten spüren. Das ist menschlich und das kennen die meisten wahrscheinlich ja auch von sich selbst, beispielsweise vor einer Uniprüfung: Man weiß, dass sie kommt, aber gelernt wird erst kurz davor. Tatsächlich ist die deutsche Wirtschaft da oftmals sehr verkopft. Viele Entscheider wollen bloß nichts falsch machen und warten deshalb ab. Hier ist mehr Mut gefragt, Angst ist fehl am Platz. Unser Credo ist: Man kann ruhig scheitern. Man muss bloß früh scheitern, dann wird es nicht so teuer.

Allgemeinhin wird der Status quo des Digitalstandorts Deutschland aktuell sehr oft kritisch beäugt. Wie ernst ist die Lage tatsächlich?

Wenn wir nicht aufpassen, könnte es schon etwas prekär werden. Unsere Unternehmen sind leider nicht digital führend. Da sind Asien, die USA aber zum Teil auch europäische Länder wie Dänemark oder Estland deutlich weiter. Die digitale Infrastruktur von staatlicher Seite macht es deutschen Unternehmen im internationalen Wettbewerb dabei nicht immer leicht. In der politischen Agenda ist das Thema Digitalisierung zwar auf dem Papier recht weit oben. Aber von E-Sports bis zum elektronischen Amtsbesuch gibt es hierzulande in der Praxis noch viel Nachholbedarf.

Was ist zusammenfassend für Unternehmen die größte Herausforderung in der digitalen Transformation?

Ich mag das Wort digitale Transformation grundsätzlich nicht. Denn die ganze Gesellschaft befindet sich aktuell in einer Phase der Transformation. Und Technologie ist dabei nur der Brandbeschleuniger, der die Geschwindigkeit reinbringt. Diese Tatsache sollten Unternehmen nicht aus dem Blick verlieren. Denn am Ende handeln Marken nicht ihrer selbst willen, sondern Menschen sollen sie toll finden und die Produkte kaufen. Und der Mensch ist menschbezogen und nicht technologiebezogen. Daher ist die eingangs erwähnte Customer Centricity auch enorm wichtig.

Inwiefern?

Früher war Innovation allein schon durch besonderen Technikeinsatz der Marken getrieben. Heute kann vor allem in den jüngeren Zielgruppen im Prinzip jeder mit digitalen Plattformen umgehen. Und ich habe das Gefühl, dass Endkonsumenten wie digitale Influencer die Marken manchmal sogar vor sich hertreiben. Das ist eine extrem spannende Entwicklung. Denn plötzlich erfinden nicht mehr die Marken ein neues Format wie Vertical Video und bespielen es so, wie sie wollen. Sondern mittlerweile verlangen das die Konsumenten. Und wenn die Marken nicht mitgehen, laufen sie Gefahr, den Anschluss zu verlieren.

Vita: Marcus Greye

Marcus Greye kam 2013 als Senior Concept Developer zu Torben, Lucie und die gelbe Gefahr (TLGG). 2017 stieg er zunächst zum Creative Director auf, seit Juli 2019 arbeitet Greye als Executive Creative Director bei der Agentur mit Sitz in Berlin. Zu seinen vorherigen Stationen zählen EOL Intermedia, wo er von 2010 bis 2013 als Senior Konzepter tätig war, sowie die Deutsche Telekom. Beim Bonner Konzern arbeitete Greye von 2009 bis 2010 als Account Manager.

Infos: TLGG

TLGG wurde 2008 von Christoph Bornschein, Fränzi Kühne und Boontham Temaismithi gegründet und zählt mittlerweile rund 180 Mitarbeiter. Die Digitalagentur unterstützt Unternehmen bei der Positionierung im digitalen Zeitalter. Dazu zählen die digitale Markenführung, Redaktionsbetrieb und Community-Management sowie die strategische Unternehmensberatung. TLGG hat Büros in Berlin und New York und ist seit 2015 Teil des Agenturnetzwerks Omnicom.

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(he, Jahrgang 1987) – Waschechter Insulaner, seit 2007 Wahl-Hamburger. Studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften und pendelte zehn Jahre als Redakteur zwischen Formel-1-Rennstrecke und Vierschanzentournee. Passion: Sportbusiness. Mit nachhaltiger Leidenschaft rund um die Kreislaufwirtschaft und ohne Scheuklappen: Print, live, digital.