Warum wir 2024 neu über KI nachdenken sollten 

Fan oder Hater. In unserer Wahrnehmungsökonomie ist wenig Platz für Graustufen. Dabei ist das wichtiger denn je. Für die generative KI-Revolution sollten wir aus Fehlern der Vergangenheit lernen.
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Gerald Hensel ist Managing Partner der Marketingberatung Superspring. (© privat, Montage: Olaf Heß)

Das Jahr 2024 ist angebrochen. Wer die Marketing-Fachpresse verfolgt, stößt auf die üblichen Trend-Listen und Jahres-Rückblicke, die den Sprung in jedes neue Jahr mittlerweile als Content begleiten. Die großen Trends 2024? Ich mache es kurz: generative KI. Egal ob im Performance Marketing, im UX-Design, bei der Content-Erstellung, im Media Business oder in der Analyse und Strategie: generative KI ist das Ding. Und dann kommt lange nichts.  

Bedenkt man, dass vor kaum einem Jahr noch kaum jemand je von ChatGPT, Midjourney & Co. gehört hatte (und nun ganze Wirtschaftszweige wahlweise Morgenluft wittern oder zittern), ist mit generativer KI auch für die schnell drehende Digitalwelt ein extrem transformativer Business-Meteorit eingeschlagen. Für viele Anwendungsfelder im Marketing ist das erstmal super spannend. Generative KI steht als Technologie noch am Anfang und wird in den nächsten Jahren zweifellos Use-Cases schaffen, von denen wir heute nicht mal zu träumen wagen. Wir leben in wahrlich bewegten Zeiten. 

Bewegung in mehr als eine Richtung 

Aber Bewegung findet bei großen Veränderungen immer in mehr als eine Richtung statt. In einer Zeit, in der sich alle darüber beklagen, dass im öffentlichen Diskurs nur noch Schwarz und Weiß zu gelten scheinen, sollten wir selbst auch wieder Graustufen in unserem Denken zulassen. Denn leider wird Kritik am unaufhaltsamen Siegeszug von generativer KI viel zu oft von vornerein als Nörgelei und Zukunftsangst abgetan.  

Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Ein so großer Wandel, wie der, in dem wir jetzt stecken, muss in seiner Komplexität vorgedacht werden dürfen. Wir sollten uns hüten, es uns zu einfach zu machen und jede Kritik als Jammern und German Angst abzutun. Wer sich noch an den frühen Enthusiasmus gegenüber Social Media („Cluetrain Manifest“) erinnern kann und heute um die toxischen Folgen („Cambridge Analytica“, Trump, Trollfarmen), weiß, was ich meine. 

Desinformation, Plagiate und Hetze als Schattenseiten 

Generative KI wird Opfer fordern und fordert sie bereits. Menschen werden sich nicht nur kreativ mit KI auf eine nächste erhabene Stufe bewegen; Menschen werden auch Jobs verlieren und sie nicht automatisch die Woche darauf als Prompt-Engineer zurückbekommen. Desinformation, Plagiate, Hetze und sexuelle Übergriffe sind die Schattenseiten einer Revolution, die wir 2024 noch intensiver erleben werden. Und wie meine Kinder je in einer Welt von ChatGPT eine Text-Kompetenz erlangen sollen, ist mir völlig schleierhaft.  

Wie das Atom, mit dem man Städte beleuchten und zerstören konnte, trägt auch generative KI die DNA einer wahrhaft großen transformativen Innovation in sich. Wir alle sollten mittlerweile wissen, dass Mega-Innovationen nie nur positive Folgen haben. 

2024 stehen wir am Anfang einer Revolution. Wenn wir diese Revolution auch in unserem Denken über die Zukunft in ihrer Komplexität richtig einordnen, können wir selbst unsere Zukunft positiv steuern. Nur über Chancen nachzudenken, mag zwar die bessere LinkedIn-Strategie sein. Die Komplexität einer neuen Zukunft mit einer sich explosiv weiterentwickelnden KI-Welt bekommen wir so nicht in den Griff. 

Gerald Hensel ist Managing Partner der Marketingberatung Superspring. Der Kolumnist hat die NGO HateAid mitgegründet und setzt sich seit vielen Jahren aktiv gegen Gewalt und Desinformation im Netz ein.