Vom Umgang mit Ekel

Für Hersteller von Insektenfood ist es eine echte Herausforderung: Unwillkürlich zucken viele potenzielle Kund*innen vor der Vorstellung zurück, Produkte aus Heimchen oder Buffalowürmern zu essen, und seien sie noch so gesund. Woran das liegt – und welche Marketingstrategien helfen.
Essen, ein kontroverses und jederzeit aktuelles Thema: Die Illustration dieser gefräßigen Sülze stammt aus einem Jahreskalender der Leipziger Illustratoren „Superfreunde“. (© Superfreunde)

Natürlich hat Christina Hartmann schon probiert. Chips, die aus Heuschrecken gewonnen wurden, zum Beispiel oder Nuggets mit Insektenmehl. Selbstversuche bringt der Job so mit sich: Die Ernährungswissenschaftlerin der ETH Zürich erforscht Konsumentenverhalten, speziell gegenüber Novel Food. „Ich will eine Vorstellung davon haben, wie es schmeckt und wie es gewürzt ist“, sagt sie. Doch Professionalität hat Grenzen, das gilt auch für Hartmann. „Alles, was Richtung Maden geht, möchte ich lieber nicht essen.“ Zu eklig.

Ekel ist ein Phänomen, das jeder kennt, es war aber lange kein Thema fürs Marketing. Das ändert sich gerade, auch weil die Erkenntnis wächst, dass das Überleben der Menschheit auch von der Umstellung auf weniger klimaschädliche Ernährung abhängt. Dazu gehört neben Insekten auch Laborfleisch. Da wäre es schon gut zu wissen, was sich bei Europäer*innen abspielt, die es schon beim Gedanken daran schaudert, Krabbeltiere zu essen – und wie sich das ändern lässt. Schließlich verspeisen Millionen von Menschen auf anderen Kontinenten frittierte Heuschrecken oder geröstete Riesenameisen durchaus mit Genuss.

In dieser Erkenntnis steckt schon ein Teil der Erklärung. „Ekel wird anerzogen, etwa wenn Eltern ihren Kindern sagen, steck das nicht in den Mund“, sagt Forscherin Hartmann. Evolutionär betrachtet ist es ein Schutzmechanismus: Ekel löst unmittelbar Distanz aus und ist damit der schnellste Weg, um eine akute Gefahr zu stoppen. Dass die Grenzen für das, was als eklig empfunden wird, kulturell so unterschiedlich verlaufen, hat mit Traditionen zu tun und mit schierem Pragmatismus – schließlich gibt es Regionen in der Welt, die außer Insekten kaum Proteinquellen zu bieten haben. Nicht ohne Grund nehmen selbst die biblischen Speisegebote vier Heuschreckenarten vom Verzehrverbot aus: Wie die Evangelisten berichten, hätte Johannes der Täufer ohne sie in der Wüste nicht überleben können.

Zum Ekel kommt die Angst vor Unvertrautem hinzu

Bernd Werner kann erklären, was bei Ekel im Kopf passiert. Er ist Vorstand der Gruppe Nymphenburg Consult in München und Spezialist für Neuromarketing. Abscheu, so scheint es, ist ein komplexes Phänomen, in das mehrere Hirnregionen involviert sind. Darunter die Amygdala, Teil des limbischen Systems, das emotionale Reaktionen auslöst und Menschen so hilft, Gefahren zu vermeiden – etwa durch Angst und Abwehr. Mit ihr verschaltet ist unter anderem die Inselrinde, neben anderen Hirnarealen zuständig für Geschmack und Geruch. In Verbindung mit gespeicherten Erfahrungen und Empfindungen bewirkt das limbische System, dass bestimmte Reize unmittelbare – und im Fall von Ekel stark emotionale – Reaktionen auslösen. Dieser Mechanismus lasse sich bewusst kaum steuern, sagt Werner: „Der rationale Mensch, der seine Impulse unter Kontrolle hat, ist eine Illusion.“

Ekel ist aber nur ein Grund, weshalb viele Menschen Novel Food nicht einmal testweise anrühren mögen. Der andere ist Neophobie: die Angst vor Unvertrautem. Bei Kindern ist dieses Phänomen gut dokumentiert und erforscht – und in der Praxis allen Eltern bekannt, wenn die Kleinen störrisch die Aufnahme unbekannter Lebensmittel verweigern. Das sei ein angeborener Schutz, weil Kinder erst lernen müssen, was gut für sie ist und was nicht, sagt Expertin Christina Hartmann: „Mit positiven Esserfahrungen verringert sich Nahrungsmittel-Neophobie.“ Doch die Skala bleibt differenziert: Es gibt Menschen, die so gut wie alles probieren – für sie gilt: je ausgefallener, desto attraktiver. Bei anderen hält die Skepsis gegenüber Neuem das ganze Leben lang an.

Vor allem ist es Veranlagung, ob jemand offen oder konservativ ist, risikofreudig oder vorsichtig. Die neuropsychologische Forschung macht dafür unterschiedliche Emotions- und Motivationsstrukturen verantwortlich. Das bei der Gruppe Nymphenburg von dem Psychologen Hans-Georg Häusel entwickelte „Limbic-Modell“ unterscheidet sieben Persönlichkeitstypen: Traditionalisten, Harmoniser, Offene, Hedonisten, Abenteurer, Performer und Disziplinierte. Die Merkmale sind auch fürs Marketing relevant: Um Produkte erfolgreich am Markt zu platzieren, müssen Auftritt und Botschaften auf die Zielgruppen abgestimmt sein.

Ein rationaler Filter hilft – aber nur, wenn es nicht zu konkret wird

So weit, so einleuchtend. Doch was bedeutet das für Hersteller von Insektenburgern oder Heimchen-Snacks, die den deutschen Markt erobern wollen? Erst mal nichts Gutes. „Rund 50 Prozent der Deutschen sind sicherheitsorientiert und versuchen eher, Neues zu vermeiden“, sagt Werner. Hedonist*innen hingegen sind experimentierfreudig, „die kriegen Sie sofort“ – doch deren Anteil liegt hierzulande nur bei rund 13 Prozent. Ein Massenmarkt, so viel steht wohl fest, wird Insektenfood auf absehbare Zeit nicht werden. „Wir kämpfen gegen eine kulturelle Prägung“, sagt Werner.

Doch lässt sich einiges tun, um die Chancen der Produkte zu verbessern. Ein Verbündeter ist da der Neokortex, ein Teil der Großhirnrinde, zuständig für höhere kognitive Fähigkeiten. Als rationaler Filter kann er Emotionen relativieren oder sogar aufheben. Am besten funktioniere das auf abstrakter Ebene, sagt Werner. Argumente wie Klimaschutz oder ein hoher Proteingehalt, die für den Konsum von Insekten sprechen, haben eine umso größere Durchschlagskraft, je weniger direkt Konsument*innen mit den Tieren konfrontiert sind. Konkret: Nudeln oder Brot mit Insektenmehl lösen weniger Ekel aus als Snacks, die Heuschrecken in Reinform präsentieren. Auch ein dezentes Design kann helfen. „Ich rate keinem, einen Mehlwurm auf der Verpackung abzubilden“, sagt Werner. 

Produkte müssen sichtbar gemacht werden

Das Beste wäre, eine kulturelle Prägung gar nicht erst entstehen zu lassen. „Damit jüngere Generationen alternative Lebensmittel akzeptieren, bräuchte es Unterstützung durch die Eltern, eine größere Sichtbarkeit der Produkte und positive Esserfahrungen“, heißt es in der Studie „Consumer responses to novel and unfamiliar foods“, die Forscherin Hartmann zusammen mit einer Kollegin verfasst hat. Ansätze dazu gab es: Der Schweizer Fleischverarbeiter Micarna etwa, der zur Migros-Gruppe gehört, stellte auf der Anuga 2019 die Neuentwicklung „Angry Nuggets“ vor, ein Kindergericht mit 25 Prozent Insektenprotein. In die Supermarktregale schaffte es die Innovation aber nie.

Die Akzeptanz neuer Proteinquellen zu heben, bleibt ein Langzeitprojekt. Selbst bei Sushi dauerte es in Deutschland Jahrzehnte, bis die Standardreaktion nicht mehr „igitt“ war, sondern „lecker“. Dabei half, dass nicht allein roher Fisch vermarktet wurde, sondern eine ganze Esskultur, bis hin zur passenden Restauranteinrichtung.

Neugier ist gefragt

Ähnlich inszeniert könnte womöglich auch Insektenfood salonfähig werden, glaubt Christina Hartmann. Durch Streetfood-Festivals nach asiatischem Vorbild zum Beispiel, auf denen neben Reiscurrys und Tofu-Gerichten wie selbstverständlich auch Seidenraupen am Spieß serviert werden oder Tacos mit Ameisenkaviar. „Das würde den Reiz und die Sichtbarkeit neuer Produkte deutlich erhöhen.“ Und zumindest die 13 Prozent Hedonist*innen und die Abenteurer*innen ansprechen, die ohnehin stets auf der Suche nach Erlebnissen sind.

Doch Vorsicht: Selbst wenn es gelingt, die Ekelbarriere zu durchbrechen, heißt das noch lange nicht, dass Novel Food massentauglich ist. Vom Testkauf aus Neugier bis zum regelmäßigen Konsum ist es ein langer Weg – und dabei zählt ein ganz klassischer Faktor mehr als alles andere: der Preis. Noch sind Grillen und essbare Würmer nämlich ganz schön teuer.

(mat) führte ihr erstes Interview für die absatzwirtschaft 2008 in New York. Heute lebt die freie Journalistin in Kaiserslautern. Sie hat die Kölner Journalistenschule besucht und Volkswirtschaft studiert. Mag gute Architektur und guten Wein. Denkt gern an New York zurück.