Ich bin neurodivers und es ist egal

Menschen aus dem neurodiversen Spektrum können in der Arbeitswelt gut funktionieren. Unter gewissen Voraussetzungen. Nicht jeder braucht dazu eine Diagnose – erst recht keine von TikTok.
Die Arbeitswelt stellt Anforderungen an Beschäftigte, denen nicht alle Menschen uneingeschränkt gerecht werden können. Dafür gibt es jedoch Lösungen. (© Imago)

Ich kann kaum eine Stunde an meinem Arbeitsplatz sitzen, ohne mich fast zwanghaft wegzubewegen. Termine von einer Stunde sind für mich meist eine der größten Hürden an einem Arbeitstag. Eine aufploppende Benachrichtigung lässt mich jede Tätigkeit sofort abbrechen. Ich habe weit mehr als zwei Jahrzehnte gebraucht, um zu realisieren, dass ich neurodivers bin.

Nein, ich habe diese Diagnose nicht von TikTok oder Instagram, obwohl das gerade ein Trend zu sein scheint. Dort gehört es mittlerweile fast zum guten Ton, sich selbst anhand einer Checkliste zu diagnostizieren. Das ist schon deshalb Unsinn, weil die meisten Menschen, die in ihren Postings vermeintliche Checklisten aufstellen, überhaupt nicht das nötige medizinische Vorwissen mitbringen. Ich selbst habe gar keine Diagnose. In der Tat ist es in vielen Fällen auch gar nicht unbedingt nötig, eine Diagnose zu stellen.

Ein Grund dafür: Streng genommen ist jeder Mensch neurodivers. Denn kein Mensch bringt exakt die gleichen neurologischen Bedingungen mit. Sonst wären wir – zumindest neurologisch – bis auf eine Neurominderheit alle gleich. Dass das offensichtlich Unsinn ist, dürfte jedem beim Gespräch mit Kolleg*innen sofort klar sein.

Welche Einschränkungen bringt meine Neurodiversität?

Die Frage, die sich stellt: Wie wirkt sich die unterschiedliche neurologische Disposition auf mich aus? Passt mir das Korsett der Bedingungen, das die Lebensrealität mir zur Verfügung stellt? Gerade die Arbeitswelt setzt hier oft Regeln: Bin ich in der Lage, in der lauten Umgebung eines Großraumbüros zu arbeiten? Kann ich die Meetings so durchziehen, wie es die Struktur meines Jobs vorgibt? Das sind Fragen, die für neurodiverse Menschen schnell zum Problem werden können.

Und genau dort ist der Punkt, an dem sowohl Arbeitnehmende als auch Arbeitgeber ansetzen müssen. Denn oftmals gibt es Lösungen für beide Seiten: Unter Umständen helfen schon kurze Unterbrechungen von langen Meetings betroffenen Personen. Oder Lärmschutzwände im Großraumbüro.

Welche Strategien gibt es?

Die Frage, die es sich also zu stellen gilt: Wie groß ist die Einschränkung, die sich durch die Neurodiversität ergibt. In meinem ganz persönlichen Fall: nicht so wahnsinnig groß. Auch, weil ich Strategien entwickelt habe, damit umzugehen. Bei langen Meetings bitte ich um Pausen oder gehe (nach Absprache) kurz raus. Push-Benachrichtigungen stelle ich an vielen Stellen aus und schaue zu spezifischen Zeiten in meine Nachrichten. Das sind keine revolutionären Ansätze, es sind vielmehr Strategien, die den meisten Menschen guttun. Nur manche beeinflusst es halt mehr, wenn sie die Strategien nicht anwenden.

Wann brauche ich eine Diagnose?

Wenn die Einschränkung aber wirklich groß ist, dann hilft eben doch eine Diagnose. Dieser Artikel ist ausdrücklich kein Plädoyer dafür, auf eine Diagnose zu verzichten. Absolut nicht! Aber: Eine Diagnose ist ein Prozess. Niemand guckt einem in den Rachen und sieht ADHS oder Autismus. Diese Begriffe unbedacht oder ohne Diagnose zu verwenden, ist sogar eher schädlich. Wenn jeder Mensch in etwas fahrigen oder wilden Momenten als ADHS-Betroffene*r betrachtet wird, dann ist dieses Verständnis sogar eher schädlich. Denn es führt zu Stigmatisierung von Betroffenen. Gleiches gilt für die TikTok-Selbstdiagnose. Ob es eine Diagnose braucht, sollte man sich insofern gut überlegen.

Daher: Wenn die Symptome für Menschen in der Realität eine Einschränkung darstellen, die sich nicht leicht beheben lässt, hilft es, eine professionelle Diagnose zu erstellen. Denn Neurodiversität ist kein Trend, es gab sie schon immer. Wir lernen nur als Gesellschaft, mehr Rücksicht auf Unterschiede zu nehmen. Wobei dieser Befund leider noch nicht für alle gilt.

Natürlich aber gibt es Punkte, an denen die Anforderungen an einen Job oder die Konditionen von Arbeitgeber und Arbeitnehmenden so weit auseinanderklaffen, dass beide Seiten nicht zusammenkommen. Wenn beide Seiten nach ehrlichen Gesprächen nicht zusammenfinden, dann gibt es sicherlich Fälle, in denen es wirklich nicht passt. Doch ich habe in den vergangenen Jahren gelernt: Das ist eher selten so. Auch ich persönlich funktioniere in dieser Arbeitswelt ziemlich gut – wenn man mich lässt. Und das gilt für die meisten betroffenen Menschen genauso.

Auf eine achtsame Woche!

(fms, Jahrgang 1993) ist UX-Berater, Medien- und Wirtschaftsjournalist und Medien-Junkie. Er arbeitet als Content-Stratege für den Public Sector bei der Digitalagentur Digitas. Als freier Autor schreibt er über Medien und Marken und sehr unregelmäßig auch in seinem Blog weicher-tobak.de. Er hat Wirtschafts- und Technikjournalismus studiert, seinen dualen Bachelor im Verlag der F.A.Z. absolviert und seit mindestens 2011 keine 20-Uhr-Tagesschau verpasst.