Hip-Hop und Twitch: Nie ohne meinen Stream

Immer mehr Deutschrapper streamen regelmäßig auf Twitch. Denn auf der Streaming-Plattform können neue Einnahmequellen erschlossen und treue Fangemeinden aufgebaut werden. Marken scheinen das Phänomen jedoch zu verschlafen.
Abhängen mit Fans: Auf Twitch pflegt Rapper Capital Bra (li.) den Kontakt zu seiner Community. (© Twitch)

Eigentlich ist US-Rapper Snoop Dogg für seine betont entspannte Art bekannt. Doch an einem Februartag im Jahr 2021 stehen auch ihm die Zornesfalten auf der Stirn. Etwa 400 Menschen sehen auf der Streaming-Plattform Twitch dabei zu, wie er fluchend seine Kopfhörer abzieht, sie auf den Tisch knallen lässt und sich dem Blickfeld der Kamera entzieht. Der Grund für den emotionalen Ausbruch: eine verlorene Partie im Football-Videospiel „Madden NFL“. Als er sieben Stunden später an den Bildschirm zurückkehrt, ist die Zuschauerzahl auf 340.000 geklettert. Ihm ist damit der erfolgreichste Stream an diesem Tag auf Twitch gelungen, ohne anwesend zu sein.

Rapper sind zunehmend auf Twitch vertreten. So auch der US-Rapper Snoop Dogg. ©Twitch

Millionen Menschen schauen täglich Streamer*innen dabei zu, wie sie Videospiele spielen, andere Streams oder Videos kommentieren, coden, musizieren – oft über mehrere Stunden hinweg. Viele verdienen ihren Lebensunterhalt damit, einige sind damit reich geworden. Dass auf Twitch Geld verdient werden kann, ist auch in der Hip-Hop-Szene angekommen. Immer mehr Rapper sind mittlerweile nicht nur in den Charts oder auf Playlists, sondern auch mit eigenen Kanälen auf Twitch vertreten. Auch deutsche Rapper finden vermehrt den Weg auf die Streaming-Plattform. Allerdings gibt es bisher nur wenig Berührungspunkte zwischen den Künstlern auf der einen Seite und Marken auf der anderen. Letztere verspielen damit ein großes Vermarktungspotenzial.

Der Konsum wird gefeiert

Wie gut Twitch und Hip-Hop zusammenpassen, zeigt die wachsende Zahl von Rappern und anderen Akteuren der Rap-Szene, die auf der Plattform aktiv sind. Farid Bang, Fler oder Sinan-G streamen regelmäßig und über Stunden hinweg, auch andere Branchengrößen wie Capital Bra oder Bushido haben die Plattform bereits bespielt. Zwischen 50.000 und 200.000 Follower*innen verfolgen ihre Streams je nach Kanal. Im April letzten Jahres stellte Rapper und Sänger Manuellsen sogar einen Rekord auf, indem er in nur zwei Wochen über 67.000 neue Follower*innen gewinnen konnte.

Rapper und Rapperinnen bringen für Markenkooperationen zwei wichtige Faktoren mit: eine große Social-Media-Reichweite und Authentizität. Gerade Letzteres ist für viele Protagonist*innen in der Szene die wichtigste Währung. Wer authentisch ist und wer nicht, darüber gibt es regelmäßig Streit. Auch der Begriff selbst hat sich in den letzten 30 Jahren verändert: Früher war die Vermarktung des eigenen Namens verpönt. Heute ist keine Musikrichtung kommerziell so erfolgreich wie Hip-Hop, in keinem anderen Genre wird der Konsum mehr gefeiert.

Heutzutage zelebrieren Rapper*innen Marken in ihrer Musik

Die Verbindung von Hip-Hop und Konsum hat eine lange Tradition. In den 1990er-Jahren begannen ­amerikanische Lifestyle-Marken damit, Hip-Hop-Elemente aufzunehmen, um sich cooler zu zeigen. Heute glorifizieren Rapper*innen ihrerseits Marken in ihrer Musik und ihren Videos, allen voran teure Luxus-, Schmuck- und Automarken. Im Jahr 2021 fand das öffentlich-rechtliche Digitalangebot Funk heraus, dass fast die Hälfte der Lieder, die in den fünf Jahren zuvor herausgebracht worden waren, Markennamen enthielt.

Dass Rapper und Rapperinnen heutzutage nicht nur mit Musik ihr Geld verdienen, zeigt sich beim Blick auf die breite Produktpalette, mit der viele hierzulande werben: Eistee, Smoothies, Tiefkühlpizza, Streetwear, Steaks und Wodka sind nur einige der Produkte, die Rapper*innen in den letzten Jahren beworben haben. Oft mit Erfolg: So ging die Tiefkühlpizza von Capital Bra nach Angaben dessen Plattenfirma 20 Millionen Mal über die Ladentheke – und das innerhalb nur weniger Monate. Hier zeigt sich das Potenzial von der Zusammenarbeit mit Rappern, wenn ein scheinbar generisches Produkt mit dem richtigen Protagonisten und der richtigen Ansprache in einer Subkultur beworben wird. Fachleute nennen das auch Cultural Marketing.

Marken können auf Twitch junge Zielgruppen erreichen

Plattenmillionär und Twitch-Streamer: Rapper Farid Bang

Gleichzeitig habe der Umsatz mit Luxusgütern bei der nach 1995 geborenen Generation stark angezogen, hieß es weiter bei Funk. So sei der Anteil dieser Gruppe am Gesamtumsatz der Luxusmarken zwischen 2016 und 2021 von einem auf 13 Prozent gestiegen. Laut der Agentur The Ambition identifizieren sich 65 Prozent der Gen Z in Deutschland mit der Hip-Hop-Kultur. 77 Prozent der Hip-Hop-affinen Gen-Z-Angehörigen geben sogar an, dass die Kultur Einfluss darauf hat, welche Brands sie mögen und kaufen. Marken könnten es also für sich nutzen, dass viele Rapper mittlerweile auf Twitch streamen. Doch von nennenswerten Twitch-Kooperationen zwischen Brands und Rappern, wie sie in den USA bereits verbreitet sind, war bisher noch nichts zu hören.

Das verwundert, denn auf Twitch können die Marken Werbebotschaften an Zielgruppen adressieren, die sie sonst nur schwer erreichen. So beträgt das Durchschnittsalter der Zuschauer*innen auf der Plattform 21 Jahre. 21 Prozent gehören zur Altersgruppe der 13- bis 17-Jährigen, 65 Prozent der Nutzer*innen sind männlich. Auf YouTube dagegen stellen die 25- bis 44-Jährigen die Mehrheit der Nutzer*innen. Dennoch scheint Twitch bisher noch keine große Rolle im Marketing-Mix von Marken zu spielen. Dabei erschafft die unmittelbare Kommunikation Nähe und lässt Streamer*innen authentisch wirken. Außerdem sind Abonnent*innen Werbung gegenüber offener, wenn sie zu den Streamer*innen passt.

Gute Einnahmen durch Abonnements und Geldspenden

So hätten 46 Prozent der Twitch-Zuschauer*innen ein Produkt gekauft, nachdem es von bevorzugtem Twitch-Streamer oder bevorzugter -Streamerin beworben worden war. Das fand die Twitch Research Power Group heraus, das firmeneigene Opt-in-Panel, das aus mehr als 60.000 Mitgliedern der Twitch-Community besteht, die gegen Bezahlung Einblicke in ihr Nutzungsverhalten geben. Außerdem würden 39 Prozent der Zuschauer*innen ihre*n Lieblings-Streamer*in als Freund*in betrachten.

Das überrascht nicht, schließlich verbringen manche Follower*innen täglich mehrere Stunden damit, ihren Idolen zuzuschauen, und begleiten sie oft über Jahre hinweg. Das organische Wachsen der Fangemeinde stärkt wiederum die Unabhängigkeit von Streamer*innen gegenüber Marken und Werbeeinnahmen. So können followerstarke Streamer*innen allein über Abonnements und Geldspenden gute Einnahmen erzielen. Werbung kann über das hauseigene Werbeangebot von Twitch platziert werden, entweder während der Streams oder auf der Seite der Streamer*innen.

Geldstrafe von 480.000 Euro

Manche Kooperationen zwischen Streamer*innen und Unternehmen zeigen aber auch, dass nicht immer an den nachhaltigen Aufbau einer Community gedacht wird, sondern eher an Erträge. So ist beispielsweise Online-Glücksspiel unter Streamer*innen beliebt – und überaus lukrativ. Deutsche Twitch-Stars wie „Knossi“ und MontanaBlack haben mit Glücksspiel viel Geld verdient. Letzterer wurde 2019 mit Casino-Streams sogar zu einem der erfolgreichsten Streamer*innen der Welt. Auch manche Rapper haben in der Vergangenheit Casino-Glücksspiele präsentiert. Doch Twitch selbst ist nach anhaltender Kritik tätig geworden und verschärfte im Oktober 2022 die Richtlinien für Glücksspiel auf der Plattform.

Ron Bielecki rappt nicht, zockt dafür in Streams. Jetzt droht ihm eine Strafe von 480.000 Euro. ©Twitch

Das bekam kürzlich der Influencer Ron Bielecki zu spüren. So soll der 24-Jährige in 51 Fällen an illegalen Glücksspielen bei Online-Casinos teilgenommen haben, stellte ein Berliner Gericht Anfang Februar dieses Jahres fest und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 480.000 Euro. Grundlage für das hohe Strafmaß waren laut Staatsanwaltschaft „die Bekundungen des Angeschuldigten zur Höhe seiner Einnahmen in sozialen Medien“.

Auch wenn Ron Bielecki kein Rapper ist: Ob solche Kooperationen tragbar für eine gesunde Community sind, mag man bezweifeln. Marken jedenfalls sollten sich vor einer möglichen Kooperation mit Personen des öffentlichen Lebens informieren, ob sie und auch deren Community zur eigenen Kultur passen. Verschlafen sollten sie Twitch jedoch nicht. Denn die Plattform hat den Sprung in den Mainstream längst geschafft.

(amx, Jahrgang 1989) ist seit Juli 2022 Redakteur bei der absatzwirtschaft. Er ist weder Native noch Immigrant, doch auf jeden Fall Digital. Der Wahlberliner mit einem Faible für Nischenthemen verfügt über ein breites Interessenspektrum, was sich bei ihm auch beruflich niederschlägt: So hat er bereits beim Playboy, in der Agentur C3 sowie beim Branchendienst Meedia gearbeitet.