Gaming oder schon Gambling? 

Mit “Loot Boxen” verdient die Gaming-Branche sehr viel Geld. Doch Studien zeigen: Sie können Gamer süchtig machen. Erkenntnisse aus dem Neuromarketing tragen daran einen Anteil – und können für weitere Gefahren sorgen.  
Im Jahr 2021 wurden in Deutschland 5,5 Milliarden Euro mit In-Game-/In-App-Käufen umgesetzt. (© Unsplash/Pawel Kadysz)

Viele Stunden verbringt Jonathan Peniket mit dem Videospiel „Fifa“, bevor er merkt, dass er süchtig ist. „Fifa“ ist eine der erfolgreichsten Videospielreihen aller Zeiten, viele Millionen Gamer lassen dabei täglich den virtuellen Ball über den Rasen rollen. Peniket tut das nicht. Stattdessen kauft er unzählige „Loot Boxen“ über das Feature „Fifa Ultimate Team“. Sie enthalten Spielerkarten, die mehr oder weniger begehrte Namen tragen und beliebig oft gekauft werden können. „Man weiß, dass das eigene Team besser wird, wenn man mehr Geld für Packs ausgibt“, sagt Peniket. Er habe sich in einem „Rausch des Zufalls“ wiedergefunden, wenn er mit Glück einen Spitzenspieler ziehen konnte. Irgendwann verliert Peniket die Kontrolle und verfällt der Sucht nach dem Rausch. Eines Abends gibt er 700 Pfund für die Boxen aus. Seine Eltern sind besorgt und überprüfen die Kontoauszüge ihres Sohnes: Knapp 3000 Pfund hat Peniket bis dato für Spielerkarten ausgegeben.  

Das Video, in dem der junge Brite seine Geschichte erzählt, hat auf YouTube über 330.000 Aufrufe. Es zeichnet ein Bild, wie Jugendliche früh in Berührung mit gefährlichen Spielmechaniken kommen und wie schnell sie spielsüchtig werden können, ohne jemals in einer Spielothek oder einem Casino gewesen zu sein. Denn immer mehr Spieleentwickler nutzen die biochemischen Prozesse im Kopf, die bei den Spielenden ablaufen, um sie zu Mikrotransaktionen zu bewegen. Obwohl Effekte des Neuromarketings, das Emotionen und Kaufverhalten berechnen will, immer wieder in Frage gestellt werden, sorgt es für Milliardenumsätze in der Gaming-Branche. Das wirft ethische Fragen auf, die immer relevanter werden, je mehr die virtuelle und die reelle Welt verschmelzen. 

Das Belohnungssystem ist wie ein zentraler Schalter im Gehirn, der Menschen veranlassen könnte, sich von Werbung beeinflussen zu lassen. Diese These vertreten Marc Domning, Christian E. Elger und André Rasel in ihrem Buch „Neurokommunikation im Eventmarketing“: „Denn nichts möchte das Gehirn lieber, als sich selbst für sein Denken und Entscheiden zu belohnen“, schreiben sie darin. Auf ähnliche Weise nutzen Spieleentwickler diese Dynamik, um Spielmechaniken zu entwickeln, die den Glücksbotenstoff Dopamin freisetzen und die Spielenden an das Spiel binden. So werden Transaktionen von realem Geld in die virtuelle Welt mit jedem neuen Spiel wahrscheinlicher.  

Studien bescheinigen “Loot Boxen” Suchtpotenzial 

Damit verdient die Gaming-Branche viel Geld. Im Jahr 2021 wurden in Deutschland 5,5 Milliarden Euro mit In-Game-/In-App-Käufen umgesetzt. Mit 43,4 Prozent des Gesamtumsatzes der Gaming-Branche sind In-Game-Käufe, also das Freischalten von Charakteren, Eigenschaften oder Items, der wichtigste Umsatztreiber geworden. Der Umsatz von Hardware (zum Beispiel von Konsolen, Gaming-PCs oder Grafikkarten) hingegen ist erstmals auf den zweiten Platz gerutscht. So wird annähernd jeder zweite Euro, der von Gamern in Software, Hardware oder Services investiert wird, direkt in den Spielen selbst ausgegeben.  

Bei In-Game-Käufen bieten viele Apps beispielsweise ein Freemium-Modell an, mit der die Nutzung der App zwar umsonst ist, doch Werbung die User Experience merklich stört. Abonnements sorgen im Normallfall dafür, dass diese Werbung umgangen werden kann. Gefährlich wird es erst, wenn ein kostenpflichtiges Feature – wie im Fall von Fifa – selbst Teil des Dopamin-Rauschs wird.  

Im Mai 2022 veröffentlichte die norwegische Verbraucherzentrale einen Bericht, in dem ausdrücklich vor sogenannten “Loot Boxen” gewarnt wird, also der Mechanik, die Fifa-Entwickler EA Sports auch nutzt. Bei der Untersuchung wirkten 20 Verbrauchergruppen aus 18 europäischen Ländern mit (unter anderem der Verbraucherzentrale Bundesverband in Deutschland). Darin heißt es, Verbraucher*innen würden durch aggressives Marketing, irreführende Gewinn-Wahrscheinlichkeiten und Manipulation dazu gebracht, große Summen für „Loot Boxes“ auszugeben. Deshalb fordern die europäischen Verbraucherzentralen von nationalen und EU-Behörden Maßnahmen zur Regulierung wie ein Verbot von irreführendem Design, zusätzliche Schutzmaßnahmen für Minderjährige und Transparenz bei Transaktionen. Behörden und Industrie müssten Verantwortung übernehmen, um ein sicheres Umfeld für Gamer zu gewährleisten. 

In Belgien sind „Loot-Boxen“ inzwischen als Glücksspiel deklariert und verboten worden. ©Unsplash/Ella Don

Zu diesem Ergebnis kam auch eine Studie der University of British Columbia, die in der Fachzeitschrift „Addictive Behaviour“ veröffentlicht wurde. Sie bescheinigt Überraschungsboxen als Link zwischen Games und Gambling zu fungieren. „Unsere Ergebnisse stimmen mit den Bedenken überein, dass Loot Boxen und Glücksspiele sich überschneiden, und unterstützen die Notwendigkeit, glücksspielähnliche Mechanismen in Videospielen zu regulieren“, konstatiert Studienleiter Gabriel Brooks.  

Virtual Reality könnte Neuromarketing Schub verleihen 

“Loot Boxen” sind also mehr als digitale „Überraschungseier“, wie EA sie während einer Befragung vor dem britischen Parlament im Jahr 2019 nannte. Potenziell süchtig machende Spielmechanismen sind jedoch nur einer der vielen Aspekte, warum Neuromarketing im Gaming-Bereich wichtig geworden ist. Denn darüber hinaus kann Neuromarketing auch für In-Game-Werbung selbst genutzt werden, da es den Vermarktern ermöglicht, zu verstehen, wie Spieler auf verschiedene Arten von Werbung reagieren, um den Zeitpunkt und die Platzierung dieser Werbung zu optimieren.  

Um an die für Marketingverantwortliche wichtigen Daten heranzukommen, werden verschiedenste nicht-invasive Methoden wie die Elektroenzephalografie (kurz EEG), funktionelle Magnetresonanztomografie (MRT) sowie Eye-Tracking eingesetzt. Letzteres hilft Vermarktern zu verstehen, wo und wie Verbraucher*innen ihre Produkte oder Werbeanzeigen betrachten. Diese Informationen können genutzt werden, um die Platzierung und Gestaltung von Elementen auf einer Website oder in einem Geschäft zu optimieren und effektivere Werbekampagnen zu erstellen. Darüber hinaus kann die Blickverfolgung Aufschluss über die Aufmerksamkeit und das Engagement der Verbraucher geben, was bei Entscheidungen über Produktentwicklung, Preisgestaltung und Marketingstrategien hilfreich sein kann. 

Diese Entwicklungen machen vor allem im Hinblick auf die voranschreitende Weiterentwicklung im Bereich Virtual Reality nachdenklich. Je digitaler unser Leben wird, desto mehr Daten hinterlassen wir und desto mess- sowie vergleichbarer machen wir uns. Die Spieleindustrie, die im Jahr 2021 weltweit rund 180 Milliarden Dollar umsetzte und damit weit vor der Film- und Musikbranche liegt, könnte diese Entwicklung noch weiter vorantreiben; zum einen, um das Spieleerlebnis nahbarer zu machen, aber auch, um gewonnene Erkenntnisse auf Werbeaktivitäten zu übertragen und Vorhersagen zu Verhalten, Aktionen und Reaktionen der Kund*innen zu ermöglichen.  

EU-Parlament stimmt für Regularien 

Doch wie viel sollten Menschen von sich preisgeben, ohne sich selbst über ihre Handlungen bewusst zu sein? Diese Frage ist nicht neu, schließlich haben die großen Tech-Konzerne wie Google, Facebook, Amazon und ByteDance ein Geschäftsmodell daraus entwickelt. So hinterlassen wir beim Surfen täglich Informationen über unseren Browserverlauf, unsere Suchanfragen und unser Online-Verhalten, aber auch persönlichere Daten wie den eigenen Standort oder demografische Informationen geben viele aus Gründen der Bequemlichkeit her. 

Schätzungen zufolge erzeugt eine durchschnittliche Person bei der Nutzung des Internets täglich etwa 1,5 Gigabyte an Daten. Viele Unternehmen und Organisationen verfolgen jene und setzen sie gezielte für Werbung, Marktforschung und andere Zwecke ein, was zu Problemen mit dem Datenschutz und der Sicherheit führen kann.  

Wie wahrscheinlich und effektiv die Umsetzung von Erkenntnissen aus dem Neuromarketing tatsächlich ist, wird schon länger diskutiert. Dass Methoden aus dem Neuromarketing potenziell gefährlich sind, zeigt die Diskussion um die “Loot Boxen” deutlich. Doch bisher gibt es keine Regulierungen, die manipulierende Mechaniken einschränken – im Gegenteil.  

Zwar sind in Belgien “Loot Boxen” inzwischen als Glücksspiel deklariert und verboten worden, doch nicht in den restlichen EU-Ländern. Das könnte sich bald ändern. Am 18. Januar 2023 hat das Europäische Parlament dafür gestimmt, dass einheitliche Regularien zu den “Loot Boxen” in der EU gelten sollen. Ob sich hierfür auch Folgen für das Neuromarketing ergeben, bleibt abzuwarten. 

(amx, Jahrgang 1989) ist seit Juli 2022 Redakteur bei der absatzwirtschaft. Er ist weder Native noch Immigrant, doch auf jeden Fall Digital. Der Wahlberliner mit einem Faible für Nischenthemen verfügt über ein breites Interessenspektrum, was sich bei ihm auch beruflich niederschlägt: So hat er bereits beim Playboy, in der Agentur C3 sowie beim Branchendienst Meedia gearbeitet.