Weshalb Kunden kaufen und die Konsequenzen

„Warum kaufen wir?“ Diese Frage, die Paco Underhill in seinem Klassiker zur Psychologie des Einkaufens stellt, kann auch dieser Artikel nicht eindeutig beantworten. Es ist unbestritten, dass hier Emotionen eine Rolle spielen. Vertriebsleiter und Verkäufer sollten dennoch nicht ihre Rationalität über Bord werfen.

Von Lothar Stempfle

Vertriebsleiter und Verkäufer – sowie Verkaufstrainer – tun gut daran, sich ab und an mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen der Hirnforschung zu beschäftigen. Denn anscheinend wächst zusammen, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört: Wirtschaftswissenschaftler, Radiologen, Psychologen, Physiker und Neurologen wollen gemeinsam den Entscheidungsprozessen auf die Spur kommen, die ablaufen, wenn der Mensch kauft. Mittlerweile gibt es dazu einen eigenen Wissenschaftszweig – die Neuroökonomik. Es geht um den Versuch, ökonomisch bedeutsames Verhalten mit Hilfe neurowissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse besser zu verstehen. Händler, Verkäufer, Gewerbetreibende, kurz: alle Menschen, die mit Kunden zu tun haben und etwas verkaufen wollen, sollten sich mit der Funktionsweise unseres Gehirns beschäftigen.

Der Kunde: keine rationale Entscheidungsmaschine
Wer dies für übertrieben hält, nehme einen Selbsttest vor: Warum lehnen wir es ab, für ein Parfüm im Ramschladen mehr als 20 Euro zu bezahlen – während wir für genau das selbe Parfüm in der exklusiven Parfümerie das Fünffache hinblättern? Rational lässt sich das kaum erklären – der homo oeconomicus würde die Parfümier links liegen lassen und Stammkunde im Ramschladen werden. Dem ist jedoch nicht so, Firmen wie Douglas leben gut davon, dass wir uns nicht rational verhalten, sondern Gefühle und Emotionen im Einkaufsprozess Tatsachen sind. Und welche Gefühle und Emotionen bei einem Menschen Verhalten steuern, entscheidet sich im Oberstübchen.

Hirnforscher wie Hans-Georg Häusel, die sich mit den Auswirkungen der Denkleistungen unseres Gehirns auf Management und Verkauf beschäftigen, sagen klipp und klar: „Wenn man heute den Kern der Hirnforschung zusammenfasst, kann man es auf einen einfachen Satz reduzieren: Alles, was keine Emotionen auslöst, ist für unser Gehirn wertlos.“ Vertrauen, Freude, Glück, Schmerz und Ärger: All dies spielt bei menschlichen Entscheidungsprozessen eine Rolle.

Konsequenz Nummer 1 für Vertriebsleiter und Verkäufer: Sie müssen sich von dem Gedanken verabschieden, sie hätten es in ihren Verkaufsgesprächen immer mit rational entscheidenden Kunden zu tun. Die meisten Kunden treffen ihre Entscheidungen unbewusst und irrational. Dabei sind sie in höchstem Maße von ihren Gefühlen abhängig. Das gilt ebenso für „die andere Seite“ – die Verkäufer. Das Argument, der Kunde habe ein Angebot aus rationalen Gründen abgelehnt – etwa, weil die Produkteigenschaften nicht passen – zieht nicht mehr. Er hat sich aus gefühlsmäßigen Gründen gegen das Produkt entschieden – etwa, weil er den Verkäufer nicht riechen konnte und die Chemie nicht stimmte.

„Es schlagen mehrere Gefühle in meiner Brust“
Na, das ist doch toll. Wenn alle Entscheidungen irrational und gefühlsmäßig getroffen werden, die Hirnforschung uns andererseits sagen kann, wo diese Gefühle im Gehirn verortet sind, brauchen wir nur noch die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf den Verkauf zu übertragen. Wir schneiden den Schädel auf und sehen das Epizentrum des Einkaufsverhaltens, den „Buybotton“ – so ist es leider nicht.

Die Gehirnforschung geht davon aus, dass unser Verhalten, unsere Entscheidungen und unsere Persönlichkeit auf drei Urprogrammen basieren, den limbischen Instruktionen, nämlich Balance, Dominanz und Stimulanz. Ähnlich wie in der physikalischen Optik, in der sich aus den drei Grundfarben Rot, Grün und Blau alle anderen Farben ergeben, lässt sich die Bandbreite menschlichen Verhaltens als Mischungen aus jenen drei Urprogrammen beschreiben.

Die Annahme der limbischen Instruktionen geht von einer Vielzahl an Motiv- und Emotionsfeldern aus und leitet daraus die entsprechenden Kundentypen ab. Jeder „Vertreter“ eines Typus betrachtet die Argumente eines Verkäufers durch die jeweilige Brille seines persönlichen Emotionsschwerpunktes. So unterscheidet man zwischen „dynamisch-dominanten Performern“, „disziplinierten Bewahrern“, „abenteuerlustigen Pioniertypen“, „sachorientierten Controllern“, „toleranten offenen Typen“ und „kreativen Genießern“. Häusel gliedert auf in „Harmoniser, Genießer, Hedonisten, Abenteurer, Performer, Disziplinierten und Traditionalisten“.

Konsequenz Nummer 2: In der Brust des Kunden schlagen gleich mehrere Herzen – ein ganzes Bündel an Emotionen beeinflusst seine Entscheidungen. Darum müssen Vertriebsleiter und Verkäufer dafür sorgen, dass der gesamte Ein- und Verkaufsprozess wo immer möglich emotionalisiert wird.

Flexibilität ist alles
Das sogenannte Neuromarketing ist aufgrund der geschilderten Annahmen in der Lage, zielgruppenspezifische Vermarktungskonzepte zu entwickeln und etwa den Betreibern eines Einkaufsmarkts zu empfehlen, wie sie die Verkaufsräume strukturieren, die Laufwege der Kunden lenken und die Produkte präsentieren sollten. Dabei ist es stets besser, sich auf eine homogene Zielgruppe zu fokussieren statt „alle“ ansprechen zu wollen. Zwischen den eher auf Sicherheit erpichten Harmonisern und den Traditionalisten gibt es genügend Übereinstimmungen, um sie mit einem gemeinsamen Konzept anzusprechen. Und wer Mode anbietet, möge die Hedonisten und Abenteurer zur Zielgruppe erheben.

Das Problem für Berater und Verkäufer, die mit Kunden zumeist im Vier-Augen-Gespräch verhandeln: Sie können nicht einfach festlegen: „Jetzt sprechen wir nur noch mit den Disziplinierten“ oder „Ab heute verhandeln wir nur noch mit Abenteurern und Performern – denn für die haben wir einen Gesprächsleitfaden entwickelt.“ Nein: Sie müssen abwarten, mit wem genau sie es im Gespräch zu tun bekommen.

Sicherlich können sie in der Vorbereitungsphase wenigstens annäherungsweise versuchen festzustellen, zu welchem Typ der Verhandlungspartner zählt. Gelingen wird dies zumeist erst im direkten Kundenkontakt. Das zieht zwei Folgen nach sich: Konsequenz Nummer 3: Flexibilität geht vor Planung. Selbst wenn Vertriebsleiter und Verkäufer davon ausgehen, dass die Entscheidungen der Kunden emotionsgelenkt und gefühlsabhängig sind: Sie wissen zumeist nicht, welche Gefühle und Emotionen dies bei dem je-konkreten Menschen sind, der dem Verkäufer im Verkaufsgespräch gegenübersitzt.

Konsequenz Nummer 4: Eigentlich brauchen verschiedene Kundentypen verschiedene Gesprächsleitfäden. Doch wenn die Anzahl der Typen ins Unermessliche steigt, ist dies ein mühseliges Geschäft. Die Hirnforscher stellen eklatante Verhaltensunterschiede in den Gehirnen der Kundentypen fest, hinzu kommen geschlechts- und altersspezifische Ausdifferenzierungen. Und weil jeder Mensch alle Altersstufen durchläuft, wird aus dem jugendlichen Abenteurer dereinst der sicherheitsverliebte Rentner – ohne dass es eine verbindliche Grenze gibt. Darum können die Gesprächsleitfäden nicht mehr sein als Geländer, die dem Verkäufer ein wenig Halt und Sicherheit geben.

Auch Hirnforschung bietet keine Sicherheit
Ein Zwischenfazit lautet: Der Kunde entscheidet nicht rational, sondern gefühlsmäßig, mit Intuition, aus dem Bauch heraus. Doch die Anzahl möglicher entscheidungsrelevanter Flugzeuge im Bauch – sie sind Legion. Und darum heißt das Gebot der Stunde „Flexibilität“. Ansonsten wächst die Gefahr, dass der Verkäufer dem Abenteurer mit Traditionalisten-Argumenten kommt.
Gibt es überhaupt so etwas wie verlässliche Parameter für den Verkäufer? Schwierig: Selbst Wissenschaftler wie Häusel oder sein Verwandter im Geiste, der Bremer Gehirnforscher Gerhard Roth, sind nicht unumstritten und haben heftige Gegner, die Roth und Co. vorwerfen, sie huldigten einem biologistischem Determinismus.

Roth glaubt, jeder Mensch sei durch sein Erbgut und seine frühkindlichen Erfahrungen auf eine Persönlichkeitsstruktur festgelegt, die kaum zu verändern sei. „Das Ich ist ein Einbahnstraße“, so sein Credo. Häusel argumentiert weniger rigoros, sieht den Menschen jedoch als Gefangenen seiner Hormone, der von Testosteron, Dopamin, Cortisol und Östrogen zu großen Teilen in seinen Entscheidungen und Handlungen festgelegt ist. Er spricht von der Benutzerillusion, das Steuer fest im Griff zu haben.

Wo bleibt da eigentlich der menschliche Freiheitswille, die Fähigkeit zur freien Entscheidung? Diese wissenschaftliche Auseinandersetzung wird hier bestimmt nicht entschieden, aber die Frage muss erlaubt sein – dazu zwei Beispiele: Häusel sagt, wir suchten uns immer die Produkte und Marken aus, die zu uns passen. Was jedoch, wenn ich dies als Konsument weiß und bewusst gegen den Stachel löcke, also als eigentlich abenteuerlustiger – um ein Häusel-Beispiel aus dem Bierbereich zu bringen – Becks-Trinker zum Traditionalisten-Bier Radeberger zu greifen?

Im Lebensmittelhandel stünden Obst und Gemüse im Eingangsbereich, um dem Gehirn zu suggerieren: „Hier geht es frisch und munter zu.“ Das Gehirn übertrage den Anfangseindruck schließlich auf den gesamten Laden. Richtig – aber: Der Konsument, dem dies bewusst ist und der sich so nicht manipulieren lassen will, meidet solche Läden. Die Ironie dabei: Er würde dann fast schon wieder rational handeln!

Achtung bei Verallgemeinerungen
Die Moral von Geschicht: Verlasse Dich auf die Hirnforschung alleine nicht. Ihre Erkenntnisse müssen auf ihre Relevanz für Kundengespräch und Verkaufsprozess geprüft werden. Zu beachten ist: Die so entstehenden Kundentypologien bergen die Gefahr der unzulässigen Verallgemeinerung. Beurteilungen auf der Grundlage einer Typologie verfestigen sich zu Etiketten; es entstehen „Schubladen“, in die man Menschen einsortiert. Es ist problematisch, mit einer wenige Verhaltensstile umfassenden Typologie die Vielfalt aller möglichen Verhaltensweisen zu beschreiben. Wer eine Typologie nutzt, darf sich nie auf dieses Raster allein verlassen.

Eine Beurteilung mit Hilfe einer Typologie ist immer nur der Startschuss für ein Gespräch, in dem man den Kunden näher kennen lernt. Solange sich Vertriebsleiter und Verkäufer der Tatsache bewusst bleiben, dass Typologien nicht die Landschaft „Mensch“ selbst abbilden, sondern lediglich eine Landkarte, ein abstrahierendes Bild der Wirklichkeit darstellen, können sie eine sinnvolle Ergänzung zum persönlichen Gesprächen sein.

Die Kundenwelt ist bunt wie ein Kaleidoskop, jeder Kunde ein einzigartiges Individuum, jedes Gespräch eine einmalige Interaktion zwischen Menschen. Die Erkenntnisse der Hirnforschung helfen, diese Interaktionen besser zu verstehen und zum Teil zu beeinflussen und zu lenken. Letztendlich jedoch gilt die: Konsequenz Nummer 5: Wichtig ist, sich auf die individuelle Welt und Sicht desjenigen Kunden einzulassen, mit dem man gerade spricht. Dazu sind empathische Fähigkeiten notwendig – wie die Wahrnehmung der Kundensituation und das Einfühlen in den Kunden, wie Zuhörkompetenz, Beziehungskompetenz und Kommunikationskompetenz. Das Training der Soft Skills gehört somit zu den vordringlichsten Weiterbildungsaufgaben.

Fazit: Es geht darum, das Herz des Kunden aufzuschließen und zu gewinnen – mit Gefühl, Herz und Verstand, je nach Kundentypus und Situation.

Der Autor: Lothar Stempfle ist Diplom-Betriebswirt und leitet seit 1991 die „Stempfle Unternehmensentwicklung durch Training“ in Erlenbach.

www.stempfle-training.de