Toolcheck: Barrierefreiheit

Manche Toolanbieter versprechen, Webseiten mit einem Overlay barrierefrei zu machen. Ist das zu einfach, um wahr zu sein? Und kann eine barrierefreie Seite überhaupt ohne Einbeziehung von Menschen mit Einschränkungen entstehen?
Toolanbieter wie Accessibe versprechen, den rechtlichen Anforderungen an Barrierefreiheit gerecht zu werden. (© Yaroslav-Danylchenko_Stocksy)

Mithilfe einer Vielzahl von Tools lässt sich feststellen, ob eine Webseite barrierefrei ist – und an welchen Stellen es hakt. Zur Wahrheit gehört aber auch: Viele Einschränkungen sind nur für diejenigen nachvollziehbar, die sie selbst haben. Für echte barrierefreie Webentwicklung braucht es also diverse Teams und Tests mit betroffenen Nutzenden. Tools können nur eine Annäherung sein, um Probleme bei der Nutzung zu verstehen und zu beheben. Die folgenden Tools helfen in der Praxis, einen schnellen Überblick zu bekommen.

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absatzwirtschaft · Toolcheck: Barrierefreiheit

Screenreader: Eine Seite nur durch Hören nutzen

Für Menschen mit Sehbehinderung ist das wichtigste Tool zur Nutzung von Computeranwendungen der Screenreader. Er liest alles vor, was auf dem Bildschirm steht. Damit das kein heilloses Chaos wird, müssen die Inhalte entsprechend aufgebaut sein. Sonst würde der Screenreader einfach oben im HTML beginnen, Inhalte vorzulesen, und sich dann durch die Seite kämpfen – egal ob er die Hauptinformationen der Seite, das Menü oder eine Werbung vor sich hat.

Ein kostenloser Screenreader ist NVDA. Damit lässt sich einfach nachvollziehen, wo Probleme liegen und Dinge nicht korrekt angezeigt werden. Wer mit dem Tool etwas Übung hat, kann den Monitor auch ganz ausschalten – um die Situation von blinden Menschen noch besser nachzuempfinden. NVDA wird auch in offiziellen Barrierefreiheitstests genutzt. Das Tool hilft also nicht nur, Probleme bestmöglich zu verstehen, sondern auch dabei, eine Seite gut auf Überprüfungen vorzubereiten.

Für das schnelle Vorlesen möglicherweise praktisch, aber im Sinne der Barrierefreiheit nicht zielführend sind Browsererweiterungen wie der Pericles Text to Speech Screen Reader. Sie lesen Inhalte zwar vor, geben sie aber in Struktur und Reihenfolge nicht so wieder, wie es „echte“ Screenreader können.

Browsererweiterungen wie der NoCoffee Vision Simulator (für Firefox) oder Silktide (für Chrome) simulieren unterschiedliche Seheinschränkungen. Mithilfe dieser Tools lässt sich besser nachvollziehen, wie Menschen mit unterschiedlichen Sehbehinderungen eine Seite wahrnehmen: Von Unschärfen und Problemen mit Kontrasten hin zu unterschiedlichen Ausprägungen von blockiertem Sichtfeld hilft das Tool zu verstehen, wie Menschen Inhalte wahrnehmen.

Dark Reader: Dark Mode für benutzerdefinierte Einstellungen

Als zusätzliche Browsererweiterung gibt es den Dark Reader. Dieses Tool ist eigentlich dazu gedacht, Seiten im Dark Mode darzustellen. Es kann aber auch dabei helfen, schnell festzustellen, ob Seiten auch bei benutzerdefinierten Einstellungen gut nutzbar sind. Denn barrierefreie Seiten müssen auch dann funktionieren, wenn Nutzende mit anderen Schriftgrößen surfen, andere Schriftarten nutzen oder andere Farbeinstellungen brauchen. Die gesamte Palette der benutzerdefinierten Funktionen lässt sich über den Browser einstellen – die Funktionen sind also standardmäßig vorhanden, nur etwas aufwendiger einzustellen.

Web Developer: Seiten ohne Styling nutzen

CSS ist die Sprache, die Webentwickler nutzen, um Webseiten zu stylen. Das Perfide: Um barrierefrei zu sein, müssen Webseiten auch ohne die Nutzung von CSS funktionieren. Klar ist: Ohne Styling wird die Seite eher wie ein unformatiertes Word-Dokument aussehen. Entscheidend ist jedoch, ob sie trotzdem verständlich und nutzbar ist. Bauen Elemente logisch aufeinander auf oder ist die Struktur ohne Styling komplett unlogisch? Mit der Browsererweiterung Web Developer lässt sich das schnell überprüfen, auch ohne Entwickler*in zu sein.

Bookmarklets: Schnellcheck von Alttext oder Überschriften

Als Bookmarklets lassen sich verschiedene Schnellprüfungen setzen. Nutzende klicken dafür einfach auf ein gesetztes Lesezeichen und schon legt sich die Funktion über die Seite. So lässt sich beispielsweise schnell feststellen, ob und welcher Alternativtext für ein Bild auf der Seite vergeben ist oder wie die Überschriftenhierarchie aussieht. Ob der Alternativtext sinnvoll ist, muss der Prüfende jedoch selbst feststellen – eine Plausibilitätsprüfung gibt es nicht.

Overlays: Barrierefrei in zwei Minuten?

Auch Overlays versprechen Aspekte der Barrierefreiheit ganz einfach umzusetzen – nach nur zwei Minuten Installation. Das soll funktionieren, indem ein Layer auf der Seite eingeblendet wird, mit dem Nutzende Anpassungen selbst vornehmen können. Sie bieten etwa eine Vorlesefunktion, verschiedene Farbanpassungen oder die Aktivierung von Tastaturnavigation. Solche Features sind verhältnismäßig einfach auf einer Website einzubauen und daher ziemlich schnell und günstig umzusetzen. Was nach der einfachen Komplettlösung für die Barrierefreiheit klingt, ist in Wahrheit aber zu schön, um wahr zu sein.

Zwar versprechen manche Toolanbieter wie AccessiBe, den nötigen rechtlichen Anforderungen laut Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) gerecht zu werden. Ein offener Brief von zahlreichen Expert*innen für Barrierefreiheit kommt allerdings zu einem anderen Resultat: Nicht nur dass mit solchen Tools nicht alle gesetzlichen Anforderungen erreicht werden. Auch dass diese Features einen tatsächlichen Nutzen haben, dürfte fraglich sein. Das unterstreicht auch Jana Mattert, Referentin für Barrierefreiheit vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband: „Über solche Tools Barrierefreiheit zu gewährleisten, ist nicht möglich, weil zum Beispiel sinnvolle Alternativtexte bislang nicht zuverlässig umgesetzt werden. Für Menschen mit einer Sehbehinderung können solche Tools gegebenenfalls die Nutzbarkeit einer Webseite erhöhen. Letztlich lassen sich Einstellungen zum Beispiel zu Schrift oder Kontrasten aber auch im Browser oder Betriebssystem vornehmen.“

Der Bundesverband E-Commerce und Versandhandel erklärt, mit einem vergleichbaren Toolanbieter zusammenzuarbeiten: Eye-Able. Das Tool kommt nach eigenen Angaben branchenübergreifend auf etwa 1000 Webseiten zum Einsatz – auch auf der Webseite des Sozialministeriums in Nordrhein-Westfalen. Das Ministerium teilt auf Nachfrage mit, dass dies allerdings nur ein zusätzliches Tool ist, der Einsatz von Eye-Able alleine sei nicht ausreichend. Zum gleichen Ergebnis kommt auch die Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit in der Informationstechnik. Auch Eye-Able selbst wirbt nicht mit kompletter Barrierefreiheit nach den gesetzlichen Anforderungen: „Assistenzsoftware wie Eye-Able lässt sich (…) als ein Produkt beschreiben, welches Nutzer*innen über die WCAG-Anforderungen hinaus ermöglicht, die Ansicht einer Website an die individuellen Bedürfnisse anzupassen“, teilt Eye-Able-CEO Oliver Greiner mit. Ein Overlay kann also höchstens unterstützen, hilft aber nicht, die Seite vollständig barrierefrei zu machen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der März-Printausgabe der absatzwirtschaft.

(fms, Jahrgang 1993) ist UX-Berater, Medien- und Wirtschaftsjournalist und Medien-Junkie. Er arbeitet als Content-Stratege für den Public Sector bei der Digitalagentur Digitas Pixelpark. Als freier Autor schreibt er über Medien und Marken und sehr unregelmäßig auch in seinem Blog weicher-tobak.de. Er hat Wirtschafts- und Technikjournalismus studiert, seinen dualen Bachelor im Verlag der F.A.Z. absolviert und seit mindestens 2011 keine 20-Uhr-Tagesschau verpasst.