So wird das Lenkrad zur Nebensache

Freizeit statt Stau-Stress – damit macht Vorreiter Mercedes-Benz Lust aufs autonome Fahren und das neue System Drive Pilot. Auch wenn die Konkurrenten noch nicht so weit sind, automatisierte Systeme sind auch für sie ein wichtiges Kommunikationsthema.
Ungewohntes Fahrgefühl: Beim Drive Pilot von Mercedes-Benz darf man Kontrolle abgeben. (© Mercedes-Benz)

Auf deutschen Autobahnen ist in diesen Wochen eine technische Revolution zu bestaunen: Da rollen die ersten Pkws, deren Fahrerinnen und Fahrer die Hand nicht mehr am Steuer haben. Nicht nur das: Sie müssen auch das Verkehrsgeschehen nicht mehr beobachten, sondern können sich ungestört dem Handy oder der Tageszeitung widmen. Das Fahrzeug fährt selbstständig, hält Abstand, bremst, verändert die Geschwindigkeit. Die Autos kommen von Mercedes-Benz, das als weltweit erster Autohersteller die Zulassung für ein sogenanntes Level-3-System bekommen hat. Nachdem man jahrelang nur über Tesla gesprochen hat, wenn es um autonomes Fahren ging, hat sich der deutsche Premiumhersteller damit an die Spitze des Innovationswettlaufs katapultiert. „Die Mondsonde ist gelandet“, zitiert das „Handelsblatt“ den Mercedes-Benz-Entwicklungschef Markus Schäfer.  

Level 3 steht für hochautomatisiertes Fahren – die dritte von fünf Stufen auf dem Weg zum vollautonomen Fahren. Auf Level 3 darf der Fahrende unter bestimmten Umständen die Kontrolle über das Auto vorübergehend komplett an das Automatisierungssystem abgeben. Er muss aber in der Lage sein, nach Aufforderung das Steuer wieder zu übernehmen, darf also den Fahrersitz nicht verlassen oder schlafen. Für das völlig neue Fahrgefühl sorgt bei Mercedes-Benz das Automatisierungssystem Drive Pilot, das seit Mitte Mai für die S-Klasse und das Oberklassemodell EQS bestellbar ist.

Einsatz in Staus oder im dichten Verkehr

Mercedes-Benz hat die Nutzungsmöglichkeiten zunächst eng gefasst: Der Drive Pilot darf nur auf Autobahnen aktiviert werden, fährt nur bis 60 Stundenkilometer und tätigt keine Spurwechsel – einsetzbar ist er also vor allem in Staus oder in sehr dichtem Verkehr. Zudem steht er nur bei Tageslicht zur Verfügung und kann nicht in Tunneln oder Baustellen sowie bei Temperaturen unter drei Grad Celsius genutzt werden, damit die Kameras und Sensoren einwandfrei arbeiten können. 

Mercedes-Benz profitiert vom Ehrgeiz der Politik, die zügig grünes Licht für das automatisierte Fahren gegeben hat. Bereits seit Juni 2017 sind Level-3-Systeme erlaubt. Es dauerte allerdings bis zum vergangenen Dezember, bis mit Mercedes-Benz der erste Hersteller eine Zulassung vom Kraftfahrt-Bundesamt bekam. Auch der nächste Schritt ist vollzogen: Seit Juni 2021 lässt Deutschland als weltweit erster Staat für genau definierte Betriebsbereiche (von A nach B) sogar vollautonomes Fahren auf Level 4 zu. Auf dieser Stufe muss niemand mehr am Steuer sitzen. Interessant wird das vor allem für Shuttle-Dienste und Busse mit festgelegten Routen sowie für Logistikunternehmen sein. 

Spektakuläre Innovationen aus der „Magischen Garage“  

Wie wirbt man für automatisiertes System, das immerhin einen Aufpreis von 5950 Euro (S-Klasse) beziehungsweise 8840 Euro (EQS) kostet? Mercedes-Benz stellt den Drive Pilot unter das Motto „Zukunft erfahren“ und weist vor allem darauf hin, dass es den Fahrer entlastet und Nebentätigkeiten auf dem Zentraldisplay ermöglicht, etwa Onlineshopping oder E-Mail-Bearbeitung über das InCar-Office. „Das wichtigste Verkaufsargument für den Drive Pilot ist der Mehrwert an Zeit für den Fahrer“, erklärt Alexandros Mitropoulos, Mercedes-Benz-Sprecher für Autonomes Fahren. „Hinzu kommen die Themen Sicherheit und Innovationsbegeisterung.“ 

Der Drive Pilot reiht sich in eine Vielzahl technischer Neuerungen ein, die Mercedes-Benz seit Juni im Rahmen der internationalen 360-Grad-Kampagne „Die Magische Garage“ in Szene setzt. Der Hauptfilm zeigt in schnellen Schnitten eine surreale Welt, in der die Protagonistin Mercedes die Innovationsthemen Aerodynamik, MBUX Hyperscreen und Digital Light präsentiert. Im Film ist auch zu sehen, wie sie sich aus dem Fenster lehnt und das Auto selbständig fährt. Explizit wird der Drive Pilot allerdings erst in einem der nächsten Spots thematisiert werden.

Mercedes-Benz-Werbefilm „Die Magische Garage“: So entspannt kann Autofahren sein. ©Mercedes-Benz

Über die „Magische Garage“ hinaus wird der Drive Pilot in die Werbemaßnahmen für S-Klasse und EQS integriert. Innerhalb der Zielgruppen für diese Modelle lassen sich Interessenten für das autonome Fahren nicht zusätzlich nach Alter, Geschlecht oder Bildungsgrad eingrenzen, daher gibt es für sie keine gesonderten Segmentierungen. Neben den Werbemaßnahmen spielen vor allem Probefahrten eine große Rolle: Der Kalender mit Drive-Pilot-Events ist weit bis ins nächste Jahr gefüllt.  

Auch die Konkurrenz will endlich Fakten schaffen 

Mercedes-Benz nimmt mittlerweile auch Level 4 in Angriff. Teile der S-Klasse und künftig auch der EQS bekommen eine Vorrüstung für den Intelligent Park Pilot. In Kooperation mit Bosch entwickelt, soll damit in Zukunft automatisiertes Parken in Parkhäusern ermöglicht werden – nachdem der Fahrende ausgestiegen ist.   

Auch die Konkurrenz sieht im autonomen Fahren seit Jahren ein wichtiges strategisches Thema. BMW will mit dem Start seiner „Neuen Klasse“ in drei Jahren Fahrzeuge mit Level-3- und später auch Level-4-Systemen anbieten. Auch VW plant den Level-3-Start für 2025. Volvo will noch in diesem Jahr mit dem SUV-Modell XC90 das System Ride Pilot für Level 3 auf die Straßen Kaliforniens bringen. Zielgruppe sind unter anderem Geschäftsleute, die in der morgendlichen Rush-Hour schon Arbeit erledigen können.  

Im aktuellen Tagesgeschäft sind jedoch außer Mercedes-Benz alle Wettbewerber noch auf Level 2 unterwegs. Daher beschränkt sich die Kommunikation im Wesentlichen auf Nachrichten über die nächsten Schritte auf dem Weg zum hochautomatisierten und autonomen Fahren. Dabei ist mittlerweile Vorsicht geboten: Die anfänglich sehr große Euphorie ist mittlerweile eher einem skeptischen Interesse gewichen, weil sich zu viele Ankündigungen als Luftblasen entpuppt haben und Starttermine verschoben haben. Daher ist möglichst sachliche Information angeraten.  

Die Zukunft, die schon heute begeistern soll 

In der Produktwerbung spielt autonomes Fahren teilweise schon eine Rolle, obwohl es noch gar nicht verfügbar ist. Es wird aber zum Zielpunkt, auf den die bisherigen Assistenz- und Automatisierungsprozesse hinweisen, zum Versprechen, das die heute verfügbaren Produkte visionär auflädt – etwa bei der Website-Präsentation des BMW Personal CoPilot: „Mit seinen Fahrerassistenzsystemen bekommen Sie schon jetzt einen Vorgeschmack auf das, was Sie in der Zukunft erwarten dürfen. In einer Zukunft, in der das Fahren mit einem BMW noch sicherer, effizienter und erlebnisreicher wird – sodass Sie in jedem Moment eine entspannte Zeit verbringen.“

Werbefilm für den iX von BMW: Der Wagen fährt, der Fahrersitz bleibt leer. ©BMW

Die Strategie der vorweggenommenen Zukunft drückt sich auch in einem aktuellen Werbefilm zum neuen, vollelektrischen iX von BMW aus. Das Modell hat bereits die Ausstattung für Level 3, das System ist aber noch nicht einsatzfähig. Der Film zeigt einen Mann, der tiefentspannt aus dem Fenster blickt, während das Auto durch die weite Landschaft fährt. Der Mann sitzt hinten, vorn sitzt niemand.

(kj, Jahrgang 1964), ewiger Soul- und Paul-Weller-Fan, hat schon für Tageszeitungen und Stadtmagazine gearbeitet, Bücher über Jugendkultur und das Frankfurter Bahnhofsviertel geschrieben und eine eigene PR-Agentur betrieben. 1999 zog es ihn aus dem Ruhrgebiet nach Frankfurt, wo er seitdem über Marketing-, Medien- und Internetthemen schreibt, zunächst als Ressortleiter bei „Horizont“, seit 2008 als freier Journalist und Autor. In der Woche meist online, am Wochenende im Schrebergarten.