Livestreaming – bringt den Laden zum Konsumenten

Verkauf über Livestreaming ist in China ein Milliardengeschäft. Gerade während und nach der Corona-Pandemie kann das Streaming-Konzept auch für europäische Einzelhändler ein vielversprechendes Marketingtool sein.
Taobao
Über Plattformen wie Taobao filmen sich Influencer, die man in China Key Opinion Leaders nennt, bei so ziemlich allem: Essen, Shoppen, Ausgehen oder Karaoke-Singen. (© Velten)

Forrester schätzt, dass allein der US-amerikanische Einzelhandel im Jahr 2020 mit einem Verlust von 9,1 Prozent, circa 320 Milliarden US-Dollar, im Vergleich zum Bruttoumsatz 2019 rechnen muss. Ebenso düster ist die Prognose, dass es ungefähr vier Jahre dauern wird, bis die Einzelhändler das Niveau vor der Pandemie wieder überschreiten können. Umso wichtiger ist es, aktuelle Trends zu prüfen und umzusetzen. In China gibt es bereits viele davon zu beobachten.

Eine Mischung aus QVC, Content Marketing, Influencern und Unterhaltung

Der chinesische Handel folgt dem Ansatz, dass Geschäfte eher wie Medien denn wie Lagerräume für Produkte wirken. Der sogenannte „Unified Commerce“ will zwar immer noch Produkte präsentieren, jedoch nicht im traditionellen Sinne von Bestand und Abverkauf. So ist es in einer Zeit von Social Selling unerlässlich, die Verknüpfung mit sozialen Medien zu stärken. Eine große Rolle spielt hierbei Influencer- und Social Media-Marketing. Dies wird sowohl durch internationale, nationale als auch mehr und mehr lokale Social-Media-Stars erleichtert. Die Idee ist, Konsumenten das Geschäft nach Hause zu bringen und das in einer deutlich erlebbareren Form als reine E-Commerce-Plattformen: nämlich in Form des sogenannten Livestream-Einkaufs, einer Form des allgemeinen Livestreamings.

Das Livestream-Netzwerk von Alibaba namens Taobao hatte 2019 über 400 Millionen Zuschauer in über 60.000 Livestream-Shows, was über 28 Milliarden US-Dollar einbrachte und sich in den vergangenen drei Jahren jedes Jahr verdoppelt hat. Die Shows muten wie eine Mischung aus QVC, Home Shopping Network, Content Marketing, Influencer Marketing und Unterhaltung an. Die Gastgeber sind teils Prominente, teils Mikro-Influencer und bewerben Produkte aktiv in Echtzeit in einem Online-Verkaufsformat.

Key Opinion Leaders auf Taobao

Ganz konkret sieht es so aus: Über Taobao filmen sich Influencer, die man in China „Wanghong“ oder „KOLs“ (Key Opinion Leaders) nennt, über mehrere Stunden hinweg bei so ziemlich allem. Beim Essen, Shoppen, Karaokesingen, Ausgehen oder, wie in einer Teleshopping-Fernsehshow, in einem Studio. Dabei testen oder tragen sie Produkte, die ihre Zuschauer direkt online kaufen können. KOLs interagieren währenddessen mit den Zuschauern, chatten mit ihnen, beantworten Fragen zum Produkt und nehmen sogar Trinkgeld von den Zuschauern an – echtes Geld in Form eines Online-Tokens, das zum Beispiel wie ein Blumen-Emoji aussieht.

Live-Aufnahmen kann so ziemlich jeder erstellen, zum Beispiel über die App „YY“, mit der zahlreiche junge Chinesen versuchen, im Internet berühmt zu werden. Dies mutet ganz so an, wie man es von Instagramern oder Youtubern kennt. Livestreaming ist gerade für Chinesen aus kleineren und ärmeren Städten ein attraktiver Weg, um bekannt zu werden und über die genannten Tokens vielleicht sogar Geld zu verdienen.

Auch für Livestreamer gibt es in China bereits zahlreiche Influencer-Agenturen, die KOLs und Brands miteinander verbinden. Denn im Unterschied zu westlichen Social-Media-Netzwerken werden die chinesischen Apps gezielt von vornherein als E-Commerce-Plattformen verstanden und nicht erst durch bezahlte Influencer-Kooperationen zu solchen entwickelt. Die KOLs kommen in China dann ins Spiel, wenn sie bereits eine eigene, für das Unternehmen nützliche Reichweite aufgebaut haben. Bezahlt werden sie von ihren Kooperationspartnern, die wiederum eine klassische Nutzungsgebühr an die jeweilige Plattform abgeben.

Mitarbeiter, Besitzer oder Kunden zu Influencern machen

Gerade für Einzelhändler ist Livestreaming ein vielversprechender Weg, Kunden zurück in die Läden zu locken. Sie müssen dafür die Geschäfte selbst zu Livestream-Sites und ihre Mitarbeiter, Besitzer oder Kunden zu lokalen Social-Media-Influencern machen. Das kann gut gemacht selbst dann funktionieren, wenn sie, wie momentan, hinter Plexiglas stehen müssen. Unabhängig davon, ob dies zusätzliche Online-Verkäufe ermöglicht oder zu einem Anziehungspunkt für Follower wird, entsprechen derartige Ansätze eher dem „neuen Einzelhandel“ als der kanalorientierte Einzelhandel der Vergangenheit.

Livestreaming in China: die wichtigsten Apps und Plattformen

  • Taobao – Taobao gehört zu Alibaba und gilt als weltweit größte E-Commerce-Website. Die Seite ermöglicht es Nutzern, Waren, die sie im Livestream sehen, direkt in den Warenkorb zu legen. Von Schuhen über Autos bis hin zu Schuldscheinen – all das wird auf der 2003 gegründeten Plattform verkauft. Influencer, die Produkte auf Taobao bewerben, werden „Taobao Daren“ genannt.
  • Tmall – Die B2C-Plattform gehört zu Taobao und damit ebenfalls zu Alibaba. Tmall bezeichnet sich selbst als „See now, buy now“-Plattform und bietet Marken gezielt die Möglichkeiten von Live-Shows an, die über Tmall ausgespielt werden und so zum Beispiel Produkt-Launches begleiten.
  • Jingdong – JD.com ist eine Verkaufsplattform für Konsumgüter aller Art und der größte Konkurrent von Alibaba. Das Angebot reicht von Lebensmitteln bis Elektronik chinesischer aber auch internationaler Unternehmen. Gegründet wurde die Firma 1998, die Verkaufsplattform ging 2004 online. Über den Livestream können Zuschauer Produkte direkt in den Warenkorb legen.
  • WeChat – Der zum Internetkonzern Tencent gehörende Messenger ist in China fester Alltags-Bestandteil. WeChat ist nicht nur ein Kommunikationskanal, sondern lässt über In-App-Programme auch Shopping zu. Über diese In-Apps ist Livestreaming möglich. „Tencent Live App“ richtet sich an Marken und Unternehmen, die einen Livestream-Channel ins Leben rufen wollen. Über das „Tencent Live Mini Program“ kann man mit Livestreamern interagieren und chatten.
  • Mogujie – Die 2011 gelaunchte Plattform Mogujie, kurz Mogu, ist auf Mode spezialisiert und spricht besonders junge Frauen an. In Livestreams werden Kleidungsstücke anprobiert oder Schminktipps gegeben. Zuschauer interagieren mit den Gastgebern und stellen Fragen. Prominente Musikgruppen haben eigene Livestream-Show auf Mogujie. In Shanghai experimentiert der Anbieter beispielsweise mit einem Livestreaming-Store in der Xujiahui-U-Bahn-Station, wo Besucher als Teil einer Livestreaming-Show mit Produkten interagieren können.
  • YY – YY wurde 2005, damals noch unter dem Namen Duowan.com, als Portal für Live-Gaming gelauncht, bevor es sich in eine Livestreaming-Plattform für alle Bereiche entwickelte. YY ist im Vergleich zu Taobao eher für die private Nutzung: User singen beispielsweise gemeinsam Karaoke oder nutzen Lehrveranstaltungen. Trinkgeld wird in Form von Online-Tokens bezahlt, die wie kleine Rosen aussehen.