Kommentar: Amazon tötet den Einzelhandel nicht

Die Anschuldigungen des US-Finanzministers Steven Mnuchin, Amazon zerstöre den Einzelhandel, sind falsch: Der Einzelhandel muss auf die veränderten Erwartungen der Kunden reagieren und sein Geschäftsmodell transformieren. Tut er das nicht, begeht er Selbstmord. Ein Kommentar.
Eine seltsame Beziehung: Amazon und die Wall Street (© Imago)

Von Jon Reily

Analysten bezeichnen das jüngste Quartalsergebnis von Amazon als Gewinnlücke. Dabei tut das Unternehmen genau das, was es für notwendig hält, und beschäftigt sich nicht allzu sehr mit dem, was die Wall Street denkt. Es ist schon eigenartig, dass ein Unternehmen, das Jahr für Jahr eine Gewinnsteigerung von 100 Millionen Dollar verzeichnen und eine Umsatzsteigerung von 20 Prozent gegenüber dem gleichen Quartal des Vorjahres ausweisen kann (entgegen der Analystenprognosen), als erfolglos bezeichnet wird. Aber das belegt einmal mehr die seltsame Beziehung der Wall Street zu Amazon.

Der Gewinnrückgang aufgrund der Margenverringerung ist ein klassischer Schachzug von Amazon – nach dem Motto: „Lassen Sie nicht zu, dass kurzfristige Gewinne die Bedeutung langfristiger Ziele überwiegen.“ In sechs Quartalen wird sich niemand mehr daran erinnern, dass Amazon die Gewinnprognosen um 100 Millionen US-Dollar verfehlt hat. Aber alle Konkurrenten werden sich auf Aufholjagd begeben müssen, wenn es Amazon gelingt, 1-Day-Shipping über das gesamte Netzwerk auszurollen. Bei Amazon dreht sich alles um den „Long Tail“, und das ist typisch für das Unternehmen.

Im Anzeigengeschäft Facebook auf den Fersen

Das Anzeigengeschäft von Amazon war ein weiterer Gewinner. Das Unternehmen berichtet von einem Anstieg der Anzeigenumsätze um 37 Prozent auf 3,0 Milliarden US-Dollar und übertraf damit die Erwartungen deutlich. Laut eMarketer wird erwartet, dass das Anzeigengeschäft von Amazon in diesem Jahr 11,3 Milliarden Dollar einbringen wird, gegenüber 10 Milliarden Dollar im Vorjahr. Zum Vergleich: Facebook meldete im zweiten Quartal 16,6 Milliarden Dollar an Werbeeinnahmen, während Googles Muttergesellschaft Alphabet im gleichen Zeitraum 32,6 Milliarden Dollar meldete.

Amazon nähert sich dem Umsatzniveau von Facebook mit seiner digitalen Anzeigenplattform, die erst vor wenigen Jahren gegründet wurde – und konkurriert mit weiteren großen Digitalfirmen. Das ist erstaunlich und ein weiteres Beispiel für Amazons Händchen, alles zu Gold zu machen.

Interessant ist auch, dass die mögliche bevorstehende Untersuchung durch das US-Justizministerium bei der Vorlage der Quartalszahlen keine Erwähnung fand. Ein Earnings Call ist natürlich nicht das richtige Umfeld, um sich dazu zu äußern. Es ist aber auch sehr unüblich für Amazon, auf etwas über Twitter zu reagieren, wie es das Unternehmen vergangene Woche auf die Aussagen von US-Finanzminister Steven Mnuchin hin getan hat. „Wenn man Amazon betrachtet, auch wenn das Unternehmen gewisse Vorteile bietet, hat es den Einzelhandel in den Vereinigten Staaten zerstört. Es steht außer Frage, dass sie den Wettbewerb eingeschränkt haben“, war der Kommentar des Ministers.

Amazon hat Erwartungen an den Einzelhandel definiert

Es ist ein bisschen weit hergeholt zu sagen, dass ein Unternehmen wie Amazon, das für etwas mehr als vier Prozent des Umsatzes in diesem Sektor verantwortlich ist, den Einzelhandel „zerstört“. Aus philosophischer Sicht ist der Einfluss natürlich enorm. Amazon hat die Erwartung definiert, was der Einzelhandel heute ist und wie er sein sollte. Und genau das macht den großen Einfluss des Unternehmens aus.

Amazon schränkt den Wettbewerb nicht ein, aber sie treiben Innovationen schneller voran als jedes andere Unternehmen. Die harte Wahrheit ist, dass die Welt des Einzelhandels, auch wenn sich ein Großteil davon noch immer in der realen Welt abspielt, heute ein digitales Business ist. Unternehmen, die diesen Wandel angenommen haben, wachsen und werden überleben. Unternehmen, die sich nicht verändern, um dem neuen digitalen Zeitalter zu begegnen, verlieren und werden es letztlich wahrscheinlich nicht schaffen.

Das Ende dieser Unternehmen liegt darin begründet, dass sie sich nicht rechtzeitig um ihren langfristigen Geschäftserfolg gekümmert haben. Diese Entwicklung lässt sich mit der frühen Sterblichkeit vergleichen, wenn man sich nicht langfristig um seine Gesundheit kümmert. Wir alle wollen lieber Kuchen und Kekse essen, als zu trainieren. Auf lange Sicht wird das aber auf uns zurückfallen. Ähnlich ist es mit dem Einzelhandel. Wenn man weiterhin die gleichen Dinge tut, die in der Jugend funktioniert haben, muss man sich nicht wundern, warum man im Alter langsam und krank wird.

Amazon tötet den Einzelhandel nicht. Einzelhändler, die sich nicht digital transformieren, um die neuen Erwartungen zu erfüllen, die Amazon den Verbrauchern in den Kopf gesetzt hat, begehen Selbstmord.

Jon Reily ist Vice President Global Commerce Strategy Lead bei Publicis Sapient.

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