„Auch ‚Arschloch sein‘ ist eine Haltung“

Wie können Marken Haltung bewahren, ohne sich in Desinformation und Polarisierung zu verlieren? Florian Severin, Branding-Experte und Gründer der Kreativagentur WRKSPC, spricht im Interview über Brand Safety auf Social Media.
Die Regenbogen-Flagge ist für viele ein Zeichen für Diversität.
Um eine Haltung zu haben, müssen Marken ihre Identität kennen. Und sie muss klar erkennbar sein. (© Imago)

Herr Severin, soziale Medien bieten Marken enorme Reichweiten, doch die jüngsten Entwicklungen stellen Marken mit Haltung vor ein Problem. Wie beurteilen Sie das Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit, auf diesen Plattformen aktiv zu sein, und den Risiken wie Brand Safety, Desinformation und Polarisierung?

Das hängt stark davon ab, in welcher Branche ich tätig bin und welche Zielgruppen ich erreichen möchte. Es gibt Bereiche, in denen Unternehmen nicht darauf verzichten können, dort präsent zu sein. Gleichzeitig muss man aber genau abwägen, ob das Umfeld von Plattformen wie TikTok oder X für die eigene Marke geeignet ist.

Wie meinen Sie das?

Brand Safety im klassischen Sinne ist in der heutigen digitalen Welt kaum noch realistisch. Wichtiger ist, dass Unternehmen Plattformen bewusst wählen und klare Leitlinien für ihren Auftritt definieren. Ein Beispiel: Rechtskonservative Mittelständler könnten sich gezielt für Plattformen wie X oder TikTok entscheiden, weil diese Kanäle ihre Zielgruppen effektiv erreichen. Entscheidend ist dabei weniger die Plattform selbst als die Authentizität und Konsistenz der eigenen Markenbotschaft.

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Florian Severin ist Gründer und Kreativkopf der Agentur WRKSPC, die sich auf innovative Markenentwicklung spezialisiert hat. Mit Stationen bei Unternehmen wie Burda und Territory zählt er zu den erfahrenen Gestaltern moderner Markenkommunikation. (© Kim Wanschka)

Was sind für Sie die wichtigsten Faktoren, die eine überzeugende und glaubwürdige Markenkommunikation ausmachen?

Glaubwürdigkeit hat zwei Dimensionen: Zum einen muss eine Marke klare Werte und Botschaften vertreten, die intern gelebt werden und die Entscheidungsprozesse, Kommunikationswege und Wertschöpfung bestimmen. Zum anderen geht es um die Art und Weise, wie diese Werte nach außen kommuniziert werden. Die Zeiten von „ein Style für alle“ sind vorbei. Marken müssen verstehen, dass die Tonalität je nach Kanal angepasst werden muss. Andernfalls wirken sie unglaubwürdig – wie der peinliche Onkel auf der Familienfeier.

Haltung ist ein vielfach diskutiertes Thema, vor allem in der Markenkommunikation. Glauben Sie, dass es für Marken heute noch möglich ist, eine klare Haltung zu vertreten, oder zwingen die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realitäten zu einem Kompromiss?

Haltung ist wichtiger denn je. Aber was viele Unternehmen als Haltung verkaufen, ist oft reines Kalkül. Haltung bedeutet, auch Konsequenzen in Kauf zu nehmen und für Werte einzustehen, selbst wenn das finanziell oder politisch unvorteilhaft ist. Leider ist das, was wir häufig sehen, Opportunismus. Viele Marken lavieren zwischen verschiedenen Positionen hin und her, um es allen recht zu machen. Das ist keine Haltung, sondern Anpassung.

Was ist also Haltung?

Haltung ist nicht per se etwas Positives. Auch „Arschloch sein“ ist eine Haltung. Unternehmerisch funktioniert das oft sehr gut, auch wenn ich das persönlich nicht gutheißen würde. Wichtig ist, dass eine Haltung klar sichtbar ist, damit die Kunden entscheiden können, ob sie das unterstützen wollen oder nicht. Wenn Marken sich auf Plattformen wie TikTok oder X bewegen, sollten sie sich nicht nur fragen, ob sie dort sein wollen, sondern auch, wie sie dort kommunizieren möchten. Es reicht nicht, einfach da zu sein. Marken müssen die Sprache und Kultur der Plattform verstehen – oder akzeptieren, dass sie dort nichts zu suchen haben. Haltung beginnt auch hier.

Viele Unternehmen in den USA fahren gerade ihre Diversitätsmaßnahmen zurück. Beobachten Sie eine Veränderung auch bei deutschen Marken?

Im deutschen Markt sehe ich oft Schwierigkeiten, Haltung konsequent und authentisch durchzuziehen. Viele Marken zögern, weil sie Einbußen bei Umsatz oder Reichweite befürchten. Haltung bedeutet jedoch, bereit zu sein, auch wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Gegenwind in Kauf zu nehmen, wenn es um die eigenen Werte geht.

Ihre Arbeit im Branding umfasst sowohl strategische Beratung als auch die kreative Umsetzung. Haben sich die Erwartungen an Markenstrategien in den letzten Jahren verändert?

Ja, eindeutig. Kunden werden kritischer und hinterfragen, ob Haltung nicht nur eine Fassade ist. Gleichzeitig sehe ich einen Trend zu kurzfristigem Denken: Entscheider wechseln ihre Prioritäten schnell, was konsistente Markenstrategien erschwert. Unsere Aufgabe ist es dann, ehrlich zu beraten und aufzuzeigen, wo Brücken zwischen widersprüchlichen Positionen fehlen. Das kann frustrierend sein, ist aber langfristig die ehrlichste Herangehensweise.

In einer Welt, in der jeder zum Content Creator werden kann, wird es für Marken immer schwieriger, sichtbar zu bleiben. Was müssen Unternehmen tun, um ihre Botschaften in der Flut von KI-Content, Meinungen und algorithmischer Manipulation durchzusetzen?

Die Antwort liegt in zwei Punkten. Erstens: Qualität. Das heißt, klare Werte und Botschaften zu definieren und diese stringent umzusetzen. Zweitens: Gezielte Investitionen in Reichweite. Es reicht nicht, guten Content zu produzieren – er muss auch gesehen werden. Wer glaubt, dass sich guter Inhalt von selbst verbreitet, irrt. Es braucht strategisches Media-Budget, um qualitativ hochwertige Inhalte sichtbar zu machen.

Angesichts der aktuellen Veränderungen auf Social Media: Was sind aus Ihrer Sicht die drei wichtigsten Fragen, die sich jede Marke stellen sollte, um in der neuen Ära der Markenkommunikation erfolgreich zu sein?

Warum existiere ich? Mit wem will ich arbeiten? Und für wen tue ich das alles? Diese Fragen legen den Grundstein für alles Weitere – von internen Prozessen bis zur äußeren Kommunikation. Ohne Klarheit in diesen Punkten bleibt jede Strategie beliebig.

(amx, Jahrgang 1989) ist seit Juli 2022 Redakteur bei der absatzwirtschaft. Er ist weder Native noch Immigrant, doch auf jeden Fall Digital. Der Wahlberliner mit einem Faible für Nischenthemen verfügt über ein breites Interessenspektrum, was sich bei ihm auch beruflich niederschlägt: So hat er bereits beim Playboy, in der Agentur C3 sowie beim Branchendienst Meedia gearbeitet.