Digitale Transformation? Nein: Digitale Evolution auf Speed!

In Zeiten der Corona-Krise spricht so mancher von einem Aufflammen der digitalen Transformation, die durch die Pandemie notgedrungen mit Brandbeschleuniger übergossen wird. Aber das ist Quatsch. Was wir erleben, ist keine digitale Transformation – es ist die digitale Evolution auf Speed. Eine persönliche Bestandsaufnahme.
Speed
Folgen von Corona: Nie zuvor war es wichtiger, anpassungsfähig zu handeln und zu denken, um starkes Marketing zu betreiben: die richtige Botschaft, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort. (© Unsplash)

Ich fiel fast hintenüber, als neulich die Meldung über den Ticker kam: Der Infektionsstand des Robert Koch-Instituts (RKI) sei nun doch noch nicht aktuell, da einige Zahlen am Wochenende leider nicht übermittelt werden konnten. Ich konnte es kaum fassen. Deutschland wird, berechtigterweise, lahmgelegt und ist im (lebens)wichtigen Austausch von Informationen dabei offensichtlich auf händische Übermittlung von Daten angewiesen. Obwohl es schon längst besser geht.

Währenddessen beobachtet man in vielen Wirtschaftszweigen fast schon überstürzt wirkende Entwicklungssprünge in der Digitalisierung. Man spricht von einem Aufflammen der digitalen Transformation, die durch die Pandemie notgedrungen mit Brandbeschleuniger übergossen wird. Aber das ist Quatsch. Was wir erleben, ist keine digitale Transformation – es ist die digitale Evolution auf Speed.

Die Meldung über die zu spät gemeldeten Zahlen liegt nun schon vier Wochen zurück, vier Wochen, in denen sich so viel geändert hat, dass sie mir wie Jahre vorkommen. Wer kann, sitzt derzeit im Homeoffice und arbeitet mit daran, die Kurve abzuflachen. Nicht wenige vermissen aktuell den Blick über die Schulter zu anderen Kollegen, die gemeinsame Runde Darts in der Pause oder den Smalltalk an der Kaffeemaschine. Jedoch finden wir uns in der Situation nach und nach zurecht, achten mehr auf uns und unsere Mitmenschen. Wir erfahren eine weltweite Krise kollektiv, das schweißt zusammen, auch wenn wir keine reale Nähe erfahren. Digital wird vielerorts – gerade aber auch mit etwas Brechstange – eingeführt. Und so fühlt sich die Veränderung hier und da auch an wie ein aufgeklebtes Pflaster, das bald wieder ab muss. Was richtig ist. Und trotzdem fällt mir viel Positives auf, wovon hoffentlich einiges bleibt oder ausgebaut wird.

Datenschutz ist plötzlich kein Totschlagargument mehr

Digitale Bildung erlebt aktuell einen wahren Schub. Lehrer entdecken WhatsApp als Dialog-Kanal. Unterrichtsstunden finden plötzlich via Zoom oder Skype statt. Digitale Lehrangebote auf Youtube werden plötzlich freudig begrüßt und als willkommene Ergänzung zur guten alten Kreidetafel gesehen. Zugegeben: Das gilt leider nicht für alle Teile der Bevölkerung und stellt für viele Kinder und Familien gerade dann eine große Herausforderung dar, wenn es an Endgeräten oder Medienkompetenz mangelt oder die Lehrkraft den eigenen Weg ins Digitale nicht auf die Kette kriegt. Dennoch bekommen Bildungseinrichtungen durch die derzeitige Situation längst überfällige und nie in Erwägung gezogene Richtungsweisungen, werden zum Um- und Weiterdenken gezwungen. Und das ist eine gute Entwicklung.

Unverhofft schnell schaffen es momentan Behörden, Anträge in digitalen Formularen unbürokratisch zur Verfügung zu stellen. Datenschutz ist plötzlich kein Totschlagargument mehr. Man versucht stattdessen, das Machbare möglich zu machen. Apps mit Infos über Bewegungsprofile freiwilliger Bürger werden ernsthaft diskutiert, um die pandemische Ausbreitung einzuschränken. Die Relevanz von Daten, deren Nutzung und die Diskussion um deren Schutz, bekommt einen ganz neuen Stellenwert für Gesellschaft und Politik.

Als besonders gefährdete Gruppe müssen sich die Älteren unserer Bevölkerung noch viel stärker vor einer Ansteckung schützen, was insbesondere den Kontakt zu Kindern ausschließt. Oma und Opa treffen ihre iPad-erprobten Enkel plötzlich wie selbstverständlich digital und genießen dieses Zusammensein in vollen Zügen, auch wenn es ab und zu an der Bandbreite klemmt. Video-Calls und das Internet sind nun eine echte Alternative, um an der Welt teilzuhaben. Freunde und Familien treffen sich gefühlt sogar öfter und angesichts der Krise auch intensiver als unter normalen Umständen.

Unser Konsumverhalten ändert sich

Auch unser Konsumverhalten ändert sich. Kontaktloses und bargeldloses Bezahlen wird auf einmal von allen praktiziert. Neben Amazon erleben auch Ketten wie Rewe und Edeka einen Schub in Richtung Online-Bestellungen. In Zeiten von leergehamsterten Ladenregalen und der Notwendigkeit, den Kontakt mit anderen auf ein Minimum zu reduzieren, scheint der Onlineshop im Lebensmitteleinzelhandel als eine Alternative akzeptiert zu werden. Zumindest waren auch hier zeitweise vieles, nicht nur Toilettenpapier, ausverkauft und Liefer-Slots über Wochen ausgebucht. Abonnements im Fitnessstudio oder für den ÖPNV können plötzlich einfach online pausiert oder gestartet werden.

Die Nutzung von Informations- und Unterhaltungsmedien verändert sich mit noch höherer Geschwindigkeit. Streaming- sowie Gaming-Anbieter erleben einen Ansturm neuer Kunden. Klassische Medien finden zu neuer Stärke und demonstrieren, wie wichtig guter Journalismus für uns ist. Nicht nur, aber gerade die öffentlich-rechtlichen Sender zeigen sich als Bollwerk gegen Populismus und Fake-News. Radio erkennt die Chancen, die im Podcast-Format liegen. Und nicht nur das. Sendungen werden durch aufwendig aufbereitete Online-Angebote ergänzt. Es geht plötzlich viel und alles viel besser.

Agenturen müssen Lösungen entwickeln

Wir Agenturen müssen es jetzt noch mehr als zuvor schaffen, für die aktuellen und noch kommenden Probleme funktionierende (Kommunikations-)Lösungen zu entwickeln. Nie zuvor war es wichtiger, anpassungsfähig zu handeln und zu denken, um starkes Marketing zu betreiben: die richtige Botschaft, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort. Glaubwürdigkeit hat immer Konjunktur. Nun aber haben die Menschen ihren Blick geschärft und achten noch stärker darauf, was Marken kommunizieren und wie sie handeln. Die Anpassung an das „new normal“ wird für manche vielleicht existenziell. Sicher zumindest digitaler.

Es bleibt die Hoffnung darauf, dass ein großer Teil der jetzt teilweise panisch nach vorne getriebenen Entwicklungen die Pandemie überleben werden und ein dauerhaftes Umdenken in der Bevölkerung stattfindet.

  • Dass digitale Bildung keine Verlagerung vom Klassenzimmer ins Internet bedeuten soll, sondern schlicht Möglichkeiten bietet, die eben auch genutzt werden müssen.
  • Dass Behörden bürokratische Hürden überwinden und in vielen Fällen einen einfacheren digitalen Weg gehen können.
  • Dass Familien und Freunde wieder stärker zusammenwachsen, anstatt in ihrer Bubble zu brüten.
  • Dass das Internet nicht zwangsläufig zu mangelnder zwischenmenschlicher Kommunikation führen muss, wie von so vielen stets prophezeit. Sondern, wie man im Moment erkennen kann, sogar zum genauen Gegenteil.
  • Dass lokale Wirtschaft und Online-Handel sich nicht ausschließen müssen.
  • Dass den Menschen klar geworden ist, dass ein nicht von Populismus geprägter Journalismus ein wesentlicher Pfeiler unserer Gesellschaft ist.
  • Dass die heimische Produktion und Versorgung mit Lebensmitteln uns gerne ein paar Cent mehr wert sein sollten.
  • Dass der allabendliche Applaus für Krankenschwestern nicht der Schluss-, sondern der Startpunkt für eine grundlegende Reform unseres Gesundheitssystems ist.

Und nicht zu vergessen: Dass die Idee Europa uns mehr wert sein muss als bloße Lippenbekenntnisse.