Automatisiertes Vertrauen

Ein Reddit-User automatisiert seinen Job - der Arbeitgeber erfährt nichts davon. Für unsere Kolumnistin stellt sich hier die Frage: Ist ein*e IT-Mitarbeiter*in, der die eigenen Aufgaben automatisiert, genial oder unkollegial?
Wenn nicht jetzt die Zeit gekommen ist, Automatisierung zu einer tragenden Säule der Digitalisierung zu machen, wann dann? (© privat (Montage: Olaf Heß))

Seit ein paar Wochen macht ein Screenshot aus dem Social-News-Aggregator „Reddit“ die Runde im Netz. In einem Post brüstet sich ein (vermutlich männlicher) User namens Throwaway59724 damit, seine Arbeit als IT-Administrator bei einer Anwaltskanzlei mit einem selbst geschriebenen Skript nahezu vollständig automatisiert zu haben und für seine 90.000 US-Dollar Jahresgehalt kaum mehr einen Finger krümmen zu müssen.

Was ihm dabei zugutekommt: Zum einen basiert seine Arbeit im Wesentlichen auf Routinen. Er transferiert Daten nach einem bestimmten Muster in die Kanzlei-Cloud. Zum anderen sitzt er wie Millionen andere pandemiebedingt im Homeoffice, kann daher unbeobachtet agieren. Ein schlechtes Gewissen habe er nicht, wie er selbst sagt, denn er verstoße gegen keine Klausel im Arbeitsvertrag. Gleichzeitig macht er keinen Hehl daraus, dass ihm nicht zuletzt auch eine Firmenkultur der absoluten IT-Unkenntnis sehr gelegen kommt.

Vertragstreue, okay. Aber ist so ein Handeln denn auch loyal?

Technologie braucht Vertrauen

Es riecht nach Grauzone. Zwar erfüllt unser 90.000-Dollar-Mann die Anforderungen an seine Rolle als Administrator vollumfänglich. Gleichzeitig gehört es aber zum guten Ton, frei werdende Ressourcen zu kommunizieren, um etwa liegen gebliebene Aufgaben zu übernehmen oder personelle Engpässe zu überbrücken. Ist das nicht auch irgendwie die Kernidee hinter Automatisierung und Digitalisierung von Arbeitskraft? Genau das tut Throwaway59724 nämlich nicht, sondern wendet sich eigenen Aussagen zufolge in der gewonnenen Zeit persönlichen Projekten zu.

So smart ich die Aktion finde, umso mehr frage ich mich: Wird damit nicht ein falsches Signal gesendet – wo doch gerade wir Tech-Enthusiast*innen stets um Vertrauen in Technologie werben? Nicht wenige assoziieren Automatisierung schließlich mit Jobverlust.

Unterstützer*innen von Throwaway59724 werden jetzt sagen: Der gute Mann kann doch nichts dafür, wenn er seiner Zeit voraus ist. Schließlich werden in naher Zukunft sehr viele administrative Tätigkeiten durch Robotic Process Automation (RPA) übernommen werden. Unternehmenskultur wird da halt nachziehen müssen. Kritiker*innen könnten wiederum einwenden: Das ist die höchste Form von Vertrauensmissbrauch. Ab vors Arbeitsgericht. Wie so oft liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte.

Für den deutschen Markt gilt laut IDG-Studie: Etwa die Hälfte der Unternehmen misst RPA einen hohen Stellenwert bei. Bis 2025 wird sich dieser Anteil sogar auf 70 Prozent erhöhen. Wenn nicht jetzt die Zeit gekommen ist, Automatisierung zu einer tragenden Säule der Digitalisierung zu machen – ohne Angst, und vor allem ohne Heimlichtuerei –, wann dann?

Isabelle Ewald ist Consultant Technology Strategy bei Otto Group. Außerdem spricht sie als Co-Host im True-Crime-Podcast „Mind the Tech“ über Verbrechen im Internet. Diese Kolumne erschien zuerst in der März-Printausgabe der absatzwirtschaft.

Isabelle Ewald ist Senior Consultant Technology Strategy bei der Otto Group und Co-Host des Crime- und Gesellschaftspodcasts „Mind the Tech“, der zweiwöchentlich erscheint.