Pluspunkte für Einwohner, die Rechnungen pünktlich zahlen, wohltätige Arbeit leisten oder Blut spenden. Minuspunkte für diejenigen, die bei Rot über die Straße gehen, Steuern hinterziehen oder die Politik kritisieren. So soll das digitale Sozialpunktesystem funktionieren, das China in diesem Jahr einführt. Das Prinzip: Wer im Alltag ein aus Sicht der Regierung vertrauenswürdiges Verhalten zeigt, soll Vorteile genießen, zum Beispiel Vorrang bei der Schulzulassung, der Wohnungszuteilung, der Jobvergabe und bei Beförderungen, aber auch günstigere Kredite oder kürzere Wartezeiten im Krankenhaus. Wer durch Fehlverhalten auffällt, erhält geringere Sozialleistungen oder darf beispielsweise nicht mehr fliegen.
Als die Pläne aus Peking bekannt wurden, war die Entrüstung in weiten Teilen der restlichen Welt groß – auch in Deutschland. Die Einführung eines solchen Systems wäre hierzulande niemals vorstellbar, da herrschte Einigkeit. Doch ganz richtig ist das nicht. Bereits vergangenes Jahr zeigten die Ergebnisse einer Untersuchung des Düsseldorfer Versicherers Ergo und des Harding-Zentrums für Risikokompetenz am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, dass die Deutschen durchaus Sympathien für das chinesische System hegen. Immerhin jeder fünfte Befragte findet das chinesische System gut. Besonders bemerkenswert: Je jünger die Befragten sind, desto größer fällt die Zustimmung zu einem Sozialpunktesystem aus. Konkret zeigt sich die Bereitschaft der Deutschen zu mehr Kontrolle am Beispiel des Autos. Auf die Frage, ob ein im Fahrzeug eingebauter Sensor eine Überschreitung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit automatisch an die Polizei melden sollte, sprach sich mehr als ein Drittel für einen solchen Datentransfer aus.
Vilshofen wollte grüne Hausnummern für nachhaltig lebende Bürger
Die Befragung war natürlich rein theoretisch. In der Praxis gibt es viel Gegenwind, sobald Gemeinden Vorstöße auf diesem Feld wagen. Diese Erfahrung musste zuletzt die niederbayrische Kleinstadt Vilshofen machen. Der Ort im Landkreis Passau wollte grüne Hausnummern an Bürger vergeben, die besonders nachhaltig leben. Der Plan sah Folgendes vor: Die Bürger müssten zuvor einen 51 Kriterien umfassenden Katalog aus umweltfreundlichen Verhaltensweisen teilweise erfüllen, um sich die grüne Tafel zu verdienen. Zu dieser hätte es außerdem einen Gutschein für den Kauf eines Baumes im Wert von 50 Euro gegeben. Der Katalog umfasste unter anderem geringen Stromverbrauch, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, den Besitz eines E-Autos oder einer Photovoltaikanlage. Das Verhalten sollte mit Fotos und Rechnungen belegt werden. Ein Pkw-freien Haushalt bedeutete 20 Punkte. Bei 150 Punkten hätte es die Tafel gegeben.
Der Vilshofener Ansatz scheint weit entfernt vom chinesischen System und zahlt eher auf den Nachhaltigkeitstrend ein. Kritiker befürchteten dennoch Kontrolle und Ausgrenzung. Behörden würden sich so in die Lebensweise ihrer Bürger einmischen. Sie würden diejenigen, die sich nicht bereits an der Hausfassade als umweltbewusst präsentieren, an den Pranger stellen. Die Stadt reagierte sofort – aus Angst, noch weiter in die Kritik zu geraten. Der Kompromiss: Vilshofen verteilt nun Urkunden statt grüner Hausnummern.
Belohnungsprinzip für Umweltbewusstsein
Die Idee, Bürger für einen nachhaltigen Lebensstil zu belohnen, ist nicht neu. In anderen Ortschaften werden Bürger beispielsweise für Einkäufe auf dem Wochenmarkt, einen niedrigen Fleischkonsum, dem Kauf einer Bahncard 100 oder die Mitgliedschaft bei Greenpeace belohnt. Fast immer sieht diese Belohnung eine sichtbare Auszeichnung vor.
Dass Bürger ohne grüne Tafel gesellschaftlich geächtet werden, scheint jedoch abwegig. Dafür gibt es dort, wo bereits Auszeichnungen verliehen werden, bislang schlicht zu wenige. Das Beispiel zeigt aber dennoch, dass der Aufschrei gegen das chinesische System zwar laut, in mancherlei Hinsicht aber doch zu voreilig ist.