„Wir machen Werbung für Eltern – nicht für Kinder“

Wieso der Kinderbuch- und Spieleverlag Kosmos in seiner Marketingkommunikation nicht die Gen Alpha direkt anspricht, erklärt Marketing- und Vertriebsgeschäftsführer Matthias Kienzle im Interview.
Matthias Kienzle (45) kam im Sommer 2016 zu Kosmos und ist seit Januar 2017 Geschäftsführer Vertrieb und Marketing beim Stuttgarter Traditionsverlag. (© Kosmos)

Der Stuttgarter Kosmos Verlag feiert in diesem Jahr ein doppeltes Jubiläum: Die Gründung jährt sich zum 200. Mal und vor genau 100 Jahren kam der erste Experimentierkasten auf den Markt. Der Erfolg der Kästen ist bis heute ungebrochen. Mit den Jahren kamen weitere Produkte wie die Drei Fragezeichen, Die Siedler von Catan oder die Exit-Reihe hinzu und wurden zu eigenen Marken. Marketing- und Vertriebsgeschäftsführer Matthias Kienzle spricht über die besondere Herausforderung, Kinder für Produkte zu begeistern, mit denen schon ihre Eltern spielerisch ans Lernen herangeführt wurden.

Herr Kienzle, wissen Sie noch, wann Sie zum ersten Mal mit dem Begriff Gen Alpha konfrontiert wurden?

Mit der Zielgruppe und ihren Themen natürlich schon vor längerer Zeit, aber bei der Bezeichnung „Gen Alpha“ ist das noch gar nicht so lange her, das muss ich gestehen.

Was zeichnet die Gen Alpha aus Ihrer Sicht aus?

Das kann ich zunächst aus meiner subjektiven Perspektive beantworten: Ich habe drei „Alphas“ zu Hause, mit zwölf, zehn und sechs Jahren. Ich sehe bei meinen Kindern einen selbstverständlichen Umgang mit digitalen Medien, sei es der TipToi-Stift, die Toniebox oder ein Tablet, und einen wachsenden, durch Corona nochmal beschleunigten Konsum solcher Medieninhalte. Für uns Eltern kommt es darauf an, anstelle von generellen Verboten sinnvolle und kreative Nutzungsmöglichkeiten zu fördern.

Welche können das sein?

Die älteren Kinder dürfen bei uns digitale Medien nahezu unbegrenzt nutzen, um beispielsweise Fotos zu machen und zu bearbeiten oder Videos zu schneiden. Wenig bis keine Bildschirmzeit gibt es dagegen für Videospiele oder Social Media. Das führt zwar manchmal zu Diskussionen, die Kinder verstehen aber auch, dass es im Zweifel wichtiger ist, etwas gemeinsam in der Familie oder mit Freunden zu machen. Einseitige Nutzung digitaler Medien kann zu Isolation führen.

Und welche Rolle spielt die Gen Alpha für das Unternehmen Kosmos?

Unsere Kernzielgruppe sind Familien mit sechs- bis zwölfjährigen Kindern – also genau die Vertreter der heutigen Gen Alpha. Unsere Mission ist es, diese jungen Menschen stark zu machen. Stärke bedeutet für uns auch Wissen und Selbstbewusstsein. Beides vermitteln wir bei den Experimentierkästen beispielsweise in erster Linie durch spielerisches Lernen.

Worauf müssen Sie bei der Ansprache der Gen Alpha besonders achten?

Unsere Kommunikation richtet sich in den seltensten Fällen an die Kinder, wir machen Werbung für die Eltern. Deswegen gibt es von Kosmos auch keine klassische TV-Werbung im Umfeld von Kindersendern.

Wieso nicht?

Für Kinder ist es immer einfacher, sich für eine Spielfigur oder ein Set eines der großen Spielwarenhersteller zu entscheiden. In diesen Wettbewerb begeben wir uns bewusst nicht. Im Idealfall sehen die Eltern den edukativen Nutzen unserer Produkte und stoßen ihre Kinder beim Ausfüllen der Wunschzettel für Weihnachten oder den Geburtstag darauf. Unsere Aufgabe ist daher auch, die Produkte und Verpackungen so zu gestalten, dass sie auch für Kinder wirklich spannend sind, und nicht den Reflex auslösen: „Jetzt muss ich etwas Lernen“.

Welche Medien nutzen Sie für Ihre Markenkommunikation?

Wir gehen überwiegend in digitale Medien, etwa Adressable TV und Streaming-Angebote sowie Social Media. Hinzu kommen unsere eigenen digitalen Kanäle, Newsletter und Events wie Lesungen, Experimentier-Workshops und Spielefeste. Dabei muss das Umfeld zu unseren Unternehmenswerten passen: Für unsere Experimentierkästen werben wir zum Beispiel im Umfeld der TV-Sendung „The Voice Kids“. Dort wird im Vergleich zu anderen Sendungen sehr respektvoll mit den Kindern umgegangen. In dem Spot, der gezielt an Familien mit Kindern in unserer Zielgruppe ausgespielt wird, geht es darum, dass jedes Kind Talente hat – auch wenn er oder sie nicht die beste Nachwuchssänger*in ist.

Die Kommunikation richtet sich in der Regel an die Eltern. © Kosmos

Was zeichnet Ihre Innovationskultur aus?

Wir identifizieren frühzeitig wissenschaftlich relevante Themen und entwickeln daraus Produktideen. Wir arbeiten mit vielen kreativen Autor*innen zusammen, die ihre Ideen mit uns teilen. Und wir betreiben klassische Marktforschung: Was passiert im Markt, welche Trends gibt es? Aus diesem Dreiklang entwickeln sich neue Produkte und Konzepte für Bücher, Spiele oder Experimentierkästen, die wir, bevor sie auf den Markt kommen, in Kindergarten- und Schulgruppen testen.

Und wie gehen Sie mit erfolgreich im Markt eingeführten Produkten um?

Wir haben uns heute noch konsequenter als in der Vergangenheit vom Grundsatz „Launch and Leave“ abgewendet und bauen stattdessen erfolgreiche Produkte weiter aus. Natürlich steht meistens zum Start die Idee eines Produktes, aber sobald wir sehen, dass sich daraus mehr entwickeln könnte, werfen wir die Marketingmaschinerie an und bauen daraus eine Marke. Wir nehmen dabei bewusst in Kauf, dass wir keine Monomarke sind. Wenn jemand an Catan, Exit oder Die Drei ??? denkt, verbindet er die Marken nicht zwingend mit Kosmos. Wir haben mittlerweile rund ein Dutzend Produkt- oder Kategorie-Marken mit eigenen Organisationsstrukturen, die in ihrer Bedeutung gleichberechtigt neben unserer Dachmarke stehen. Das unterscheidet uns von vielen Mitbewerbern, es bringt aber auch eine größere Komplexität mit sich.

Der erste Elektrobaukasten des Verlags kam 1922 auf den Markt. © Kosmos

Mit seinem ersten Experimentierkasten war Kosmos 1922 ein Pionier. Kinder konnten damit ihre Welt spielerisch entdecken und gleichzeitig etwas Lernen. Das hat sich auch 100 Jahre später nicht geändert.

Im Gegenteil, die Zeit hat sogar für uns gespielt. Schauen Sie in die heutigen Grundschulen: Dort hat das spielerische Lernen längst den Frontalunterricht abgelöst. Dieser Ansatz hat sich vielfach auch in der Praxis durchgesetzt. Wichtig für unsere Programmarbeit ist, das wir neben den klassisch zeitlosen Themen frühzeitig die Zukunftstechnologien aufgreifen und sie auf unterschiedliche Wege zugänglich machen.

Welche Wege können das sein?

In unseren aktuellen „Big Fun Chemistry“-Chemiekästen begeben sich die Kinder in die Rolle eines Chemikers, probieren sich praktisch aus und erleben Wissenschaft hautnah. Daneben gibt es auch das lineare Lernen, in dem die Kinder eine Anleitung durchlesen. Ein dritter Ansatz ist das Lernen über eine Geschichte: Die Drei ??? brauchen beispielsweise auch chemisches Wissen, um ihre Fälle zu lösen. Mit diesen unterschiedlichen Zugängen und auch mit dem Fokus auf die jeweiligen Zukunftstechnologien ist es uns gelungen, das Thema Experimentieren über die letzten 100 Jahre hinweg kontinuierlich größer zu machen. Wobei die letzten 30 Jahre global betrachtet ein Beschleuniger waren.

Was meinen Sie?

Die Kosmos Experimentierkästen sind nicht nur in Deutschland erfolgreich. Seit einigen Jahren sind sie in China und den USA noch viel gefragter als hierzulande. Auch die Eltern dort wollen ihre Kinder damit frühzeitig an Themen heranführen, um sie auf eine spätere Karriere als Wissenschaftler oder Ingenieur vorzubereiten.

Ein aktueller Experimentierkasten: Kosmos will damit auch frühzeitig Zukunftstechnologien aufgreifen. © Kosmos

„Die Drei ???“-Bücher gibt es seit 1964 und die Hörspiele seit 1979. Müsste sich eine solche Reihe nicht irgendwann überlebt haben?

Uns bringt sie weiterhin nicht nur stabile, sondern organisch wachsende Umsätze. Das liegt vor allem daran, dass wir den Inhalt über die Jahre in der Zeit gehalten und die Marken generationsübergreifend behutsam weiterentwickelt haben. Dadurch gelingt es uns, bei den jungen Erwachsenen verankert zu bleiben. Wenn sie dann selbst Kinder bekommen, haben sie noch positive Erinnerungen an unsere Inhalte. Zudem waren wir immer offen für unterschiedliche Medien. Es ist am Ende nicht entscheidend, ob ein Buch, ein Spiel, ein Puzzle, eine App oder ein Hörspiel den Inhalt vermittelt.      

Hörspiele waren früher Audiokassetten, später CDs. Beides dürfte die jüngste Generation nicht mehr kennen. Wie hat sich das Medium gewandelt?

Doch, es gibt noch CDs und die Gen Alpha kann damit auch noch etwas anfangen, allerdings findet sich in vielen Haushalten kein CD-Player mehr. Der überwiegende Teil der Hörspiele wird heute gestreamt. Weil viele Eltern aber nicht wollen, dass ihre Kinder mit Smartphone oder Tablet durch die Gegend laufen, sind Firmen erfolgreich, die gestreamte Musik oder Hörspiele wieder auf haptischen Produkten, etwa der Toniebox oder der Tiger Media Box, abspielen. 

Welche Rolle spielt das Lizenzgeschäft für Kosmos?

Als Verlag haben wir traditionell das Ziel, Lizenzen für unsere Inhalte zu verkaufen. Vor knapp drei Jahren haben wir unsere klassische Lizenzabteilung in eine Entertainment-Abteilung weiterentwickelt und mit Fachleuten aus diesem Bereich verstärkt. Dabei geht es darum, Marken über unterschiedliche Medien einen Entertainment-Charakter zu geben.

Können Sie Beispiele dafür nennen?

Für unsere Marke „Catan“ gibt es auch eine digitale Spiele-Plattform, das Catan-Universe, oder auch Live-Events. Für die „Die drei ???“ sind wir jüngst eine Lizenzpartnerschaft mit Thalia eingegangen. In den kommenden zwei Jahren wird es in allen Buchhandlungen eine permanente POS-Installation geben, an der nicht nur unsere Hörspiele und Bücher stehen, sondern auch von Thalia entwickelte Merchandise-Artikel. Dort stehen auch die Die drei ???-Tonies, für die wir eine Partnerschaft mit Boxine haben.

Durch spielerisches Lernen sollen Kosmos-Produkte Wissen und Selbstbewusstsein vermitteln. © Kosmos

Welche Partnerschaften sind denn als nächstens geplant?

Wir planen mit zwei unserer Marken in eine Streaming-Serie und eine TV-Show zu gehen. Dazu kann ich an dieser Stelle aber noch nicht mehr verraten. Was wir schon sagen können, ist, dass wir Die drei ??? Anfang 2023 in Zusammenarbeit mit unsern Partnern Sony Pictures und Deutsche Columbia ins Kino bringen werden.

Profitieren Sie eigentlich eher von vergangenen Erfolgen oder sind diese mehr eine Bürde, weil der Anspruch an die Marke Kosmos dadurch immer höher wurde?

Natürlich bringt jeder Erfolg einen gewissen Druck und eine Erwartungshaltung mit sich, diesen Erfolg zu wiederholen. Die Gefahr ist, durch den vergangenen Erfolg weniger Platz für Innovationen zu lassen. Natürlich gab es auch bei uns zwischendurch auch immer wieder Phasen der Stagnation, aber es hat sich durch unsere Struktur, unsere kreative DNA und die offene Innovationskultur immer wieder etwas Neues entwickelt.

Was ist das nächste große Ding für die Gen Alpha aus dem Hause Kosmos?

Ich weiß heute nicht, welches Produkt das sein wird. Aber ich weiß, es kommt etwas.


(tht, Jahrgang 1980) ist seit 2019 Redakteur bei der absatzwirtschaft. Davor war er zehn Jahre lang Politik- bzw. Wirtschaftsredakteur bei der Stuttgarter Zeitung. Der Familienvater hat eine Leidenschaft für Krimis aller Art, vom Tatort über den True-Crime-Podcast bis zum Pokalfinale.