Warum Tesla so wertvoll und gleichzeitig angreifbar ist

Echte Vorteile aus Kundensicht entstehen zunehmend durch die Kombination besonderer Expertise der Mitarbeiter eines Unternehmens mit künstlicher Intelligenz und Datenanalytik. Diese "Integrierte Intelligenz" erklärt den hohen Börsenwert von Tesla zumindest teilweise und gibt anderen Marken eine Richtschnur.
Rechtfertigt der Technologievorsprung von Tesla bei KI und Datenmanagement die hohe Börsenbewertung? (© Roberto Nickson / Unsplash)

Von Ulrich Lichtenthaler

Tesla ist keineswegs überall die Nummer 1: Bei der Stückzahl ist der Elektoauto-Pionier weit abgeschlagen, das Unternehmen verkauft nur einen Bruchteil der Fahrzeuge etablierter Automobilkonzerne. Allerdings ist der Börsenwert von Tesla (über 250 Milliarden Euro) seit einiger Zeit deutlich höher als der Börsenwert von VW, Daimler und BMW zusammen (ungefähr 150 Milliarden Euro, Werte Stand Mitte Juli 2020).

Natürlich hat die Corona-Krise einen Beitrag zu diesen Werten geleistet, denn Tesla expandiert weiterhin gerade über Online-Verkäufe, die etablierte Konkurrenz hingegen ist deutlich stärker von Absatzeinbrüchen betroffen. Darüber hinaus jedoch lohnt sich eine genauere Analyse, auch wenn selbst nach Meinung von Tesla CEO Elon Musk die aktuelle Börsenbewertung seines Unternehmens zu hoch ist.

Elektromobilität und künstliche Intelligenz

In der Vergangenheit stand bei der Bewertung von Tesla die Rolle als Pionier im Markt für Elektromobilität im Vordergrund, mittlerweile sind andere Aspekte wichtiger. So hat Tesla einen Technologievorsprung bei einer einheitlichen Architektur für Datenanalytik, Elektronik und Software, die drahtlose Updates ermöglicht. Außerdem hat Tesla einen Vorsprung beim autonomen Fahren, vor allem bei der Anzahl gefahrener Kilometer als Trainingsdaten, die für die Entwicklung der Algorithmen und künstlichen Intelligenz entscheidend sind. Während etablierte Automobilhersteller sowie Waymo primär Testkilometer abspulen, nutzt Tesla seine bereits verkauften Fahrzeuge im Markt zur weiteren Entwicklung der Technologie – auch wenn in Deutschland nicht mit Slogans wie „Autopilot inklusive“ geworben werden darf.


Über den Autor: Prof. Dr. Ulrich Lichtenthaler ist Professor für Management und Entrepreneurship an der International School of Management (ISM) in Köln. Als Experte wird er regelmäßig als Keynote-Speaker, Executive Coach und freiberuflicher Berater zu digitaler Transformation, künstlicher Intelligenz und Innovation gebucht.

Kürzlich ist sein neues Buch „Integrierte Intelligenz: Wettbewerbsworteile erzielen durch die Kombination menschlicher und künstlicher Intelligenz“ erschienen. (www.ulrichlichtenthaler.com)


Doch rechtfertigt der Technologievorsprung von Tesla bei KI und Datenmanagement die hohe Börsenbewertung? Produktvorteile sind gerade in stärker digitalisierten Märkten oftmals auf spezifische menschliche und künstliche Intelligenz sowie insbesondere deren zielgerichtete Kombination zurückzuführen. Die erste wichtige Dimension zur Erreichung von Wettbewerbsvorteilen besteht also aus den Kompetenzen der Mitarbeiter eines Unternehmens in unterschiedlichen Technologie- und Marktbereichen. Hinsichtlich der Expertise in vielen traditionellen Feldern wie Fertigung, Entwicklung, Qualität und auch Service kann Tesla noch nicht mit den etablierten Automobilherstellern mithalten.

Die zweite wichtige Dimension zur Erreichung von Wettbewerbsvorteilen durch „Integrierte Intelligenz“ bilden die verschiedenen Arten von KI und Datenanalytik. Hier kommt der Technologievorsprung von Tesla bei Software-Architektur und autonomem Fahren voll zum Tragen. Sowohl die Software-Probleme etablierter Hersteller in den vergangenen Monaten als auch die Zahl autonom gefahrener Kilometer von Tesla verdeutlichen diesen Vorsprung. Die Wettbewerbsvorteile von Tesla entstehen an den Schnittstellen dieser zwei Dimensionen, weil ein Technologievorsprung bei KI und Datenanalytik meist erst mit entsprechender Expertise der Mitarbeiter, gerade auch im Marketing, zu einem echten Wettbewerbsvorteil auf den Märkten wird. Was bedeutet das für die etablierten Automobilhersteller und für Unternehmen in anderen Branchen?

Bisherige Erfolgsfaktoren und integrierte Intelligenz

Erstens müssen die Mitarbeiter in allen Bereichen der Organisation für die Relevanz dieser neuen Erfolgsfaktoren sensibilisiert werden, von der Beschaffung und Entwicklung bis hin zu Marketing und Vertrieb. Dies erfordert oftmals ein noch klareres Verständnis, wie sehr sich die dominante Logik von Branchen durch Digitalisierung und KI aktuell ändert. Die dominanten Erfolgsfaktoren aus dem bisherigen Automobilgeschäft bleiben zwar relevant, sie werden allerdings zunehmend ergänzt und von anderen Aspekten teilweise verdrängt. Dabei stellt Elektromobilität nur einen Aspekt dar, dessen erfolgreiche Handhabung nicht ausreichen wird. Vielmehr müssen Datenmanagement, KI und Software zu neuen Kernkompetenzen werden, deren Dringlichkeit allen Mitarbeitern vollständig bewusst sein muss.

Zweitens sollten die etablierten Hersteller ihre bestehenden Strategien bezüglich KI, Datenanalytik und autonomem Fahren hinterfragen. Mit einer systematischen Analyse der Projektportfolios zu diesen Themen können in Firmen aus allen Branchen meist Bereiche identifiziert werden, die bisher nicht oder kaum adressiert werden. Außerdem können Grundlagen für künftige Wettbewerbsvorteile gelegt werden. An den Schnittstellen bisheriger Kernkompetenzen auf Basis der Expertise der Mitarbeiter, zum Beispiel jahrzehntelanger Ingenieurserfahrung, können in Verbindung mit geeigneter KI und Software neue Kernkompetenzen entstehen. Solche spezifischen Wettbewerbsvorteile durch „Integrierte Intelligenz“ können auch von Tesla kurzfristig nur schwer aufgeholt werden.

Tesla hat Rückstand in Qualität und Service

Drittens müssen die bestehenden Automobilhersteller ebenso wie Firmen in anderen Sektoren ihre KI-Fähigkeiten weiter ausbauen. Hierzu ist auch die Anstellung weiterer Software- und KI-Experten unumgänglich. Gleichzeitig sollte jedoch niemand annehmen, dass selbst durch die Einstellung einer Vielzahl von Digitalexperten allein diese Herausforderungen zu meistern wären. Ohne die Sensibilisierung der Mitarbeiter aller Bereiche und das Hinterfragen der Projektportfolios wird diese dritte Maßnahme nicht weiterhelfen. Die Anstellung neuer KI-Experten ist zwar nötig und zweckmäßig, reicht für eine umfassende Transformation aber nicht aus. Mit einem klaren Verständnis für die Relevanz von „Integrierter Intelligenz“ in der ganzen Organisation besteht hingegen die Möglichkeit, durch zielgerichtete Investitionen in neue Mitarbeiter die Expertise bei KI nachhaltig zu stärken.

Das Konzept der „Integrierten Intelligenz“ rechtfertigt einen hohen Börsenwert von Tesla, wenn auch nicht unbedingt die tatsächliche Höhe der Bewertung. Gleichzeitig verdeutlicht das Konzept die Angreifbarkeit von Tesla, die über die fehlende Risikostreuung durch die starke Ausrichtung auf die Person von Elon Musk hinausgeht. Neben dem aktuellen Technologievorsprung bei KI und Datenanalytik hat Tesla in anderen Bereichen wie Qualität und Service einen nennenswerten Rückstand aufzuholen.

Gleichzeitig wird es auch bei den KI- und Software-Aktivitäten der etablierten Automobilhersteller weitere Rückschläge geben. Die Kombination bestehender menschlicher Kompetenzen mit verbesserten Fähigkeiten bei KI und Datenmanagement im Sinne von „Integrierter Intelligenz“ zeigt jedoch systematisch Wege auf, wie etablierte Automobilhersteller und Firmen aus anderen Branchen auch künftig Wettbewerbsvorteile aufbauen und behaupten können – gegenüber Tesla und weiteren neuen Anbietern.