Preisexplosion: Das Marketing muss Hilfestellung für den Vertrieb leisten

Die Inflation auf den Beschaffungsmärkten setzt den Vertrieb der Zuliefererunternehmen unter Druck, höhere Preise gegenüber ihren Abnehmern durchzusetzen. In dieser Situation ist auch das Marketing gefordert. Ein Gastbeitrag.
René Schumann ist ein renommierter Verhandlungsexperte und intimer Kenner der Automobilindustrie. (© NAG)

Dass Lieferanten einer Branche in den Medien öffentlichkeitswirksam über ihre Kunden herfallen, ist eigentlich ein No-Go in der Wirtschaft. Doch die Lage vieler Automobilzulieferer ist inzwischen offenbar so kritisch, dass manche keinen anderen Ausweg mehr sehen. So klagte jüngst Thomas Burger, der geschäftsführende Gesellschafter des Antriebstechnikherstellers Burger Group, in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über „eine neue Form des Zynismus“ der großen Autokonzerne. Diese „pressen den letzten Cent aus der ausgehungerten Lieferkette und bestehen kaltblütig auf Einhaltung der vertraglichen Regelungen aus Vor-Inflationszeiten“, während sie selbst „klotzig verdienen“. Und im „Handelsblatt“ forderten Autozulieferer den Verband der Automobilindustrie (VDA) dazu auf, als Mediator zwischen ihnen und den großen Automobilfirmen tätig zu werden, weil die Verhandlungen miteinander zunehmend konfrontativ verliefen. Die Autobauer kämen bei der Anpassung der Einkaufspreise den Zulieferern nur so weit wie unbedingt notwendig entgegen, um einen drohenden Lieferstopp abzuwenden.

Tatsächlich stehen viele Autozulieferer mit dem Rücken zur Wand. Öl und Gas, Rohstoffe und Vorprodukte sowie Containerfracht haben sich im vergangenen Jahr teilweise um das Mehrfache verteuert. Die Null-Covid-Strategie Chinas mit der Schließung ganzer Hafenanlagen sowie der Krieg Russlands gegen die Ukraine stören die fein justierten Lieferketten. Die Folge: Engpässe in der Produktion und Produktionsausfälle. Großkonzerne drosseln wegen der Chipkrise ihre Produktion und melden bei Zulieferern Stückzahlen ab, bezahlen aber nur den Preis, der für die höhere Stückzahl kalkuliert war. „Mengenrabatt ohne Menge“, schimpft Zulieferer Burger.

Einkaufspreise über drei Jahrzehnte stabil

Dazu kommen nun die Zweitrundeneffekte. Die Gewerkschaften fordern wegen der höheren Lebenshaltungskosten mehr Lohn, die Personalkosten steigen. Für die Vertriebsabteilungen der Zuliefererbetriebe ist dadurch eine völlig neue Lage entstanden: Denn seit der wirtschaftlichen Öffnung Chinas und dem Fall der Mauer waren die Einkaufspreise der Unternehmen im Großen und Ganzen stabil oder sogar rückläufig gewesen. Inflation gab es in den vergangenen drei Jahrzehnten kaum. Hauptaufgabe des Vertriebs war Beziehungsmanagement. Seine Kompetenz wurde danach beurteilt, wie gut er darin war, die Beziehung zu den Kunden zu pflegen.

Doch nun steht der Vertrieb unter dem Druck, hohe Mehrpreisforderungen gegenüber Kunden durchzusetzen. Dazu muss er sich kulturell neu aufstellen. Neben dem Beziehungsmanagement ist nun auch Verhandlungskompetenz und damit auch eine gewisse Härte gegenüber dem Kunden gefragt. Hier ist die Unternehmensführung in der Verantwortung, den Vertrieb darauf entsprechend auszurichten. Und auch das Marketing, das eigentlich lieber Erfolge kommunizieren möchte, muss sich auf diese schwierige Situation einstellen und Hilfestellung für den Vertrieb leisten, wollen die Zulieferer überleben.

Krisenkommunikation des Marketings gefragt

Der Einkaufsleiter eines großen Automobilzulieferers sagt hinter vorgehaltener Hand, dass jetzt die Marketingabteilung des Unternehmens zusammen mit der Pressestelle Texte für den CEO erstellt, mit denen er ungeschminkt die Auswirkung der Inflation auf den Beschaffungsmärkten in die Öffentlichkeit trägt und bis auf die Prozentzahlen vorrechnet, mit welchen Preissteigerungen das Unternehmen im Einkauf konfrontiert ist. Das Ziel dieser „Marketingkampagne“: Verständnis für die Mehrpreisforderungen in der Bevölkerung zu wecken und so indirekt Druck auf die OEMs zu erzeugen, den Zulieferern bei den Mehrpreisverhandlungen entgegenzukommen.

Die Marketingabteilungen der Zulieferer sind deshalb in der gegenwärtigen Situation gut beraten, eine Art Krisenkommunikation zu entwickeln und genau zu überlegen, mit welchen Botschaften sie jetzt in die Öffentlichkeit gehen. Sie sollten offensiv über Engpässe und Preissteigerungen in der Beschaffung, über höhere Lohnkosten und die rücksichtlose Abbestellpraxis der Autokonzerne informieren. Die Vertriebsabteilungen werden es ihnen bei den Preisverhandlungen danken.

René Schumann, einer der renommiertesten Verhandlungsexperten in Deutschland, ist ein intimer Kenner der Automobilindustrie. Er hat fast zehn Jahre als Einkäufer für Daimler sowie in angesehenen Unternehmensberatungen gearbeitet. 2018 hat er die Negotiation Advisory Group (NAG) mit inzwischen rund 40 Mitarbeitern gegründet.