Wir alle sind neurodivers

Was muss im Gehirn passieren, damit wir eine Kaufentscheidung treffen? Das ist die zentrale Frage des Neuromarketings. Aber nicht alle Gehirne funktionieren gleich. Ivonne Fernández y González plädiert für mehr Rücksicht im Sinne von (Neuro-)Diversität, Inklusion und Barrierefreiheit.
Straße mit Werbebannern
Neurodivergente Menschen reagieren sensibler auf Werbetafeln. Kreative sollten das bei der Entwicklung von Kampagnen beachten. (© Unsplash)

Wer erinnert sich nicht an die kultigen M&M’s-Werbeclips der frühen Nullerjahre, in denen zwei sympathisch trottelige Schokolinsen computeranimiert durch alle möglichen Slapstick-Abenteuer stolperten – immer mit der Gefahr konfrontiert, einfach „vernascht“ zu werden? Was für viele Menschen der Marke im Wortsinn ein Gesicht gegeben und zu einer persönlichen Bindung geführt hat, das dürfte für einige andere so abschreckend gewesen sein, dass sie definitiv für immer die Finger von der Süßigkeit gelassen haben.

„Viele von uns neigen dazu, Mitleid sogar mit Gegenständen zu empfinden“, sagt Ivonne Fernández y González über das Empfinden neurodivergenter Menschen. Diese sprechenden M&M’s seien für sie „unangenehm nah an Kannibalismus“, erklärt die Psychologin weiter. Fernández y González ist Vorsitzende des Vereins Neurodivers, der von autistischen Menschen geleitet und organisiert wird. Der Verein vertritt die Interessen von Autistinnen und Autisten und tritt für ein autistenfreundliches, also inklusives und barrierefreies Umfeld ein.

Das zunächst harmlose Beispiel verdeutlicht vor allem eines: Menschliche Gehirne funktionieren teils sehr unterschiedlich – so unterschiedlich, dass ansonsten wirksame Marketingkonzepte potenzielle Kund*innen dauerhaft vertreiben können. Wer sich also mit den Wirkungen von Werbung und Marketing auf unser Denken und die daraus resultierenden Entscheidungen beschäftigt, kommt nicht umhin, die Tatsache der Diversität zu akzeptieren und sich damit auseinanderzusetzen.

Allgemein werden diese neurobiologischen Unterschiede unter dem Begriff „neurodivers“ zusammengefasst. Wichtig ist es, zunächst einmal zu verstehen, dass wir alle neurodivers sind. Menschen bringen ganz unterschiedliche Dispositionen mit, die sich auf einem unendlich vielfältigen Spektrum neurologischer Ausprägung bewegen.

Allerdings gibt es auch eine Gruppe von Menschen, deren Art zu denken und die Welt zu sehen sich stärker von einer sogenannten neurotypischen Mehrheit unterscheidet. Weil es der fatale Ansatz der Vergangenheit war, alles von einer mehrheitsdefinierten Norm Abweichende als Defizit zu definieren, kennen wir diese atypischen neurologischen Formen vor allem als Diagnosen: Autismus, AD(H)S, Dyskalkulie (Rechenstörung), Legasthenie oder Dyspraxie – Letzteres meint atypische Voraussetzungen in Koordination und Motorik.

Inklusive Marketingkonzepte müssen Neurodiversität mitdenken

Mittlerweile bezeichnet man diese wiederum sehr unterschiedlichen Ausprägungen als „neurodivergent“. Die mit Neurodivergenz verbundenen realen Nachteile in der Gesellschaft sollen mit dem Ausdruck allerdings auf keinen Fall schöngeredet werden: „Das Konzept der Neurodiversität verleugnet dabei nicht, dass Autismus mit Einschränkungen einhergeht in einer Welt, die nicht für autistische Menschen gemacht ist. Auch verleugnet das Konzept nicht, dass eine Behinderung vorliegen kann. Schwerpunkt wird jedoch auf Akzeptanz und den Abbau von Barrieren gelegt, anstatt auf defizitorientiertes Ausgrenzen oder auf aufgezwungene Anpassung“, schreibt Neurodivers auf seiner Vereinshomepage.

Dass Menschen sehr unterschiedlich denken können und dass eine Werbestrategie, die möglichst viele Menschen einschließen möchte, sich dessen bewusst sein muss, das ist ein wichtiger Aspekt, der im Neuromarketing bisher wenig berücksichtigt wurde. „Wichtig ist zu betonen: Natürlich ist nicht jeder autistische Mensch gleich. Sie sind es genauso wenig, wie es neurotypische Menschen sind. Aber es gibt Durchschnittswerte und typische Aussagen“, sagt Fernández y González, die selbst Autismus und ADHS zu ihren Dispositionen zählt.

Mit welchen Grundvoraussetzungen neurodivergente Menschen auf Werbung reagieren, fasst sie so zusammen: „Wir sind sensorisch und emotional sehr sensibel, was Kaufentscheidungen betrifft, rationaler. Im Schnitt liegen höhere Abstraktionsfähigkeit, höhere Textverarbeitungsfähigkeiten, größeres Vokabular, bessere Mustererkennung und höhere visuelle Verarbeitungsgabe vor.“ Diese sensorische Hypersensibilität auf Reize berge jedoch auch Schattenseiten: Schnell seien Dinge schmerzhaft, zu hell, zu laut, zu hektisch.

Solche Reizüberflutungen wirken auf neurodivergente Menschen eher abschreckend und eine klare Werbebotschaft kann nicht mehr zu ihnen durchdringen – ganz abgesehen von dem tatsächlichen Leiden, das es bei Betroffenen verursacht.

Werbebotschaften mit grellen Farben, Clips mit schnellen Schnitten und Blitzlichtgewittern, alles, was schrill, laut und zu hell ist, verfehlt bei dieser Gruppe also seine Wirkung. Bevorzugt würden im Produkt- und Verpackungsdesign eher ansprechende, ruhige Patterns. Aber das ist noch nicht der einzige Unterschied in der Wahrnehmung von Werbung bei neurodivergenten Menschen. Sie sind laut Fernández y González wachsamer und sensibler gegenüber Manipulationsversuchen: „Falschaussagen à la ‚Diese Schokolade macht glücklich‘ und Quatsch-Elemente (‚Wäscht weißer als weiß‘) funktionieren nicht und können sogar eine richtige Abneigung gegen das Produkt produzieren. Fantasiebestandteile – zum Beispiel bei Haarprodukten erfundene ‚Diamant-Technologie‘ – kommen auch ganz schlecht an.“ Bei individuellen Themen, die von Neurodivergenten teils mit großer Wichtigkeit versehen würden, müssten laut der Expertin unbedingt die Fakten stimmen. Greenwashing und Ähnliches funktioniere nicht.

Ein ebenso weitverbreitetes wie falsches Klischee über Autismus besagt, dass die betreffende Gruppe nur über flache bis keine Emotionen verfüge. Das Gegenteil ist der Fall: „Werbungen, die beispielsweise Mitleid erregen sollen, sind sehr verstörend, da viele von uns extrem mitleiden – auch mit Objekten, weshalb etwa anthropomorphes (vermenschlichtes, Anm. d. Red.) Essen verstörend sein kann“, sagt Fernández y González.

Werbungen, die Mitleid erregen, sind sehr verstörend, da viele von uns extrem mitleiden.

Ivonne Fernández y González, Vorsitzende des Vereins Neurodivers

Gerade die überbordende Gefühlswelt führt teils dazu, dass autistische Menschen sich zum Schutz zurückziehen und so in der Vergangenheit als abgestumpft missverstanden wurden. Dabei ist die Realität nur eine andere, teils sogar feinfühligere Wahrnehmung: „Wir Erwachsenen verstehen meistens die transportierten sozialen Botschaften: ‚Dieses Auto macht dich erfolgreicher‘, ‚Dieser Kaffee macht, dass dein Mann dich wieder mag‘ und so weiter. Aber wir empfinden diese oft als oberflächlich und seltsam. Wir haben eigene soziale Regeln“, erklärt die Psychologin.

Neurodivergente im Marketing als Zielgruppe anerkennen

Als Zielgruppe sind neurodivergente Menschen aus rein ökonomischer Sicht laut Fernández y González nicht zu unterschätzen: „Wir gelten als schwierige, aber auch extrem treue Kund*innen. Ich benutze seit 26 Jahren Make-up der gleichen Marke, auch in meinem Bekanntenkreis ist die Markenpräferenz über Jahrzehnte stabil. Produktänderungen, auch beim Design, sind dabei fatal und können dazu führen, dass wir ein Produkt nicht mehr kaufen. Das ist mir gerade erst passiert: Das Design meines Gesichtswassers wurde geändert, jetzt kaufe ich es nicht mehr.“

Aber auch aus einer Gleichstellungsperspektive heraus kennt die Vereinsvorsitzende die Chancen, die in der Anerkennung als wirtschaftliche Zielgruppe stecken: „Tatsächlich gibt es dringlichere Probleme [als Marketing] – wir sind eine stark diskriminierte Gruppe, die als empathielos abgetan und bisweilen sogar menschenfeindlich mit Affen oder Robotern gleichgesetzt wird.“ Autist*innen würden sehr schlechten Zugang zum Gesundheitswesen und zum klassischen Arbeitsmarkt haben, ihre Lebenserwartung sei unter anderem dadurch stark herabgesetzt. „Man muss uns endlich als Menschen sehen und unsere Weltwahrnehmung verstehen, die sich doch stark von der der neurotypischen unterscheidet, und schädliche und diskriminierende Fehlinformationen richtigstellen“, fordert Fernández y González. Wie bei der LGBTIQ+-Bewegung in den 90er-Jahren sei es ihrer Meinung nach auch hilfreich, „wenn ‚der Markt‘ uns als Konsumentengruppe wahrnimmt“.