Mental Health: Zeit für einen Tabubruch

Es ist Zeit, mentale Gesundheit in den Fokus zu stellen, aus menschlicher und auch aus volkswirtschaftlicher Sicht. Unsere Gastautorin Tanja Eggers lädt zum Perspektivwechsel ein und gibt persönliche Einblicke, warum sie eine Symbiose von (Self)Leadership und Achtsamkeit als Schlüsselkompetenz der Zukunft sieht.
Heute ist Internationaler Tag der seelischen Gesundheit. Das Thema nimmt auch im Arbeitsleben eine immer wichtigere Rolle ein. (© Unsplash/Kristina Tripkovic)

„Psychische Gesundheit ist ein Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann.“ So lautet die Definition der WHO (Weltgesundheitsorganisation) aus dem Jahr 2019. Gesundheit als Wert ist in den letzten Monaten verstärkt in den Mittelpunkt der Gesellschaft gerückt. Mindfulness hält langsam, aber sicher Einzug in Organisationen, der positive Einfluss auf die ganzheitliche Performance wird gesehen und präventiv integriert. Achtsamkeit hilft den Blick fürs Wesentliche zu schärfen, die Ressourcen zu stärken, um die Potenziale des Einzelnen und somit des Teams zu heben.

Es beginnt bei uns selbst und unserem Selbstbild. Die Stärkenorientierung ist Part des systemischen Denkens und Handelns, auf Basis von Vertrauen und einem positiven, wertschätzenden Menschenbild. Als Führungspersönlichkeit habe ich unter anderem Verantwortung für gesunde Systeme, hierzu gehört die Kontextgestaltung für eine gesunde Performance für mich selbst, für mein Team, für die Organisation. Achtsamkeit in Verbindung mit Empathie sind Future Skills für Leadership und Teamwork, denn Gesundheitsmanagement ist mehr als ein Gesundheitstag im Jahr.

Prävention statt Eskalation

Der Psychreport 2022 der DAK zeigt auf, dass in den letzten zehn Jahren die Anzahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen um 41 Prozent zugenommen hat. Die durchschnittliche Falldauer, also die Ausfallzeit eines Mitarbeitenden, beträgt 39,2 Tage. Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen nehmen über 50 Prozent Anteil der Erkrankungen ein. Mentale Gesundheit ist oftmals noch stigmatisiert und ein Tabuthema in Unternehmen und in unserer Gesellschaft. Gleichzeitig zeigen Studien, dass Präventionsmaßnahmen deutlich effektiver sind, für alle Beteiligten, für den Betroffenen als auch für die Organisation.

Vier Ansätze, um mentale Gesundheit aus der Tabu-Ecke zu holen und in der Unternehmenskultur zu verankern:

  • Es ist Zeit, übergreifend mentale Gesundheit zum Thema machen. Dazu gehört das Schaffen von präventiven Strukturen und Räumen in einer vertrauensvollen Atmosphäre, welche fördert, frühzeitig über mentale Belastungen sprechen zu können.
  • Es ist Zeit, als Vorbild vorangehen und mentale Gesundheit und Mindful Leadership als Module in der Führungskräfte-Entwicklung zu integrieren.
  • Es ist Zeit zur Reflexion. Dafür können Mikrosessions im Online-Format mit Achtsamkeitsimpulsen und Hintergründen zur Neurowissenschaft für das komplette Team angeboten werden.
  • Es ist Zeit, darüber zu sprechen und Hotlines oder ein Coaching-Pool anonymisiert in das betriebliche Gesundheitsmanagement zu integrieren. Auf einen Therapieplatz wartet man aktull mehrere Monate.

Stellen wir uns vor, dass wir in Zukunft offen über unseren Gesundheitszustand reden, auch und vor allem wenn es uns nicht so gut geht und wir an gewisse Belastungsgrenzen kommen. Ist dies denkbar? Was macht diese Vorstellung mit uns? Wir selbst haben die Macht, etwas zu verändern. Und wir haben die Verantwortung – auch die volkswirtschaftliche Verantwortung, dies zu tun. Es beginnt bei uns selbst und es sind kleine Schritte, die große Wirkung zeigen. Es ist Zeit für einen Tabubruch.

Wie ein Schlaganfall unseren Manager-Blick verrückte

Mein Mann hatte einen Schlaganfall mit 49. Mit einem Schlag wurde alles anders. Schlagartig. Vom Manager zum Frührentner. Dies hat uns sehr geerdet und unseren Blick verrückt. In meinem aktuell erschienen Buch „Perspektive PatchWork“ haben wir unsere unterschiedlichen Perspektiven zum Umgang mit Schlaganfall beschrieben. Die Sicht meines Mannes als direkt Betroffenen, die Sicht von mir als Partnerin plus meine Sicht in der professionellen Rolle als systemische Coachin, die mir persönlich im Hinblick auf die eigene Selbstfürsorge geholfen hat.

„Meine Stärke wurde zu meiner größten Schwäche“, so reflektiert mein Mann heute. Durch den Antreiber „sei stark“ hat er für sich keine Hilfe in schwierigen Situationen angenommen, denn ein starker Mann macht dies alles mit sich selbst aus. Diese teilweise noch tradierten Vorstellungen und Glaubenssätze gilt es aufzubrechen. Fehlende Wertschätzung im Job, fehlende Erfolgserlebnisse, Trennungen im privaten Bereich, all dies kam zusammen. Der Körper hat Anzeichen und Warnzeichen gesendet. Doch manches will und kann man im Moment nicht wahrnehmen oder verdrängt dies.


In diesem Podcast sprechen Tanja Eggers und Jörg Zuber über psychische Herausforderungen durch einen plötzlich auftretenden Schlaganfall bei einem Topmanager.


Der Monitor der INQA (Initiative Neue Qualität der Arbeit) aus 2019 zur „Psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt“ zeigt folgende wichtige Erkenntnisse auf:

  • Emotionale Anforderungen im Beruf zeigen einen hohen negativen Zusammenhang mit dem psychischen Wohlbefinden.
  • Einen besonders starken Zusammenhang mit dem psychischen Wohlbefinden zeigen die Faktoren Zufriedenheit mit der Arbeit (unabhängig vom Einkommen) sowie die emotionale Qualität der Arbeit, etwa das Erleben von Begeisterung, Stolz und Energie.

Was haben wir für uns aus diesem Schicksalsschlag abgeleitet? Nach langer und intensiver Reflexion des Erlebten, der letzten sechs Jahre inklusive dem “Tal der Tränen” haben wir für uns beschlossen, darüber zu reden – als Team. Durch das Teilen unserer persönlichen Erfahrungen ist es unser Ziel, zu sensibilisieren sowie Mut zu machen, das Thema Gesundheit mehr in den Fokus zu stellen.

Abschließend eine kleine Reflexionsfrage: Gibt es einen Unterschied zwischen „stark sein“ und „mutig sein“? Diese Frage habe ich mir des Öfteren gestellt und auch in meinem Buch reflektiert, hier ein kleiner Auszug daraus: Bedeutet stark sein automatisch, immer stark sein zu müssen? Oder kann stark sein nicht auch bedeuten, einen Moment der Schwäche zuzulassen? Ist das nicht die eigentliche Stärke? Und schwingt hierbei nicht auch ganz viel Mut mit?

„Man braucht Stärke, um seine Gefühle zu verbergen.
Man braucht Mut, um sie zu zeigen.“

„Man braucht Stärke, um sich anzupassen.
Man braucht Mut, um anders zu sein.“
(Reftel 2015)


In diesem Sinne,

lasst uns #anders sein. Lasst uns #mutig sein. Lasst uns #ganzheitlich denken.


Stellen wir uns vor, dass wir in Zukunft offen über unseren Gesundheitszustand reden, regt Tanja Eggers an. (Quelle: Nutzmedia)

Tanja Eggers von Ancoris Consulting bietet als langjährige Managerin und systemische Business Coach und Organisationsentwicklerin einen Ankerplatz für Leadership, Diversity und gesunde Performance. Zusätzlich hat sie sich nach dem Schlaganfall ihres Mannes entschlossen, ein Fernstudium zur Betrieblichen Gesundheitsmanagerin zu absolvieren. Aktuell hat sie ein Buch „Perspektive PatchWork: Mehr Mut zur ganzheitlichen Gestaltung von Leadership, Karriere und Kultur“ veröffentlicht.