Kann Künstliche Intelligenz auch Media? 

Alle spekulieren darüber, wie KI die Kreativbranche verändern wird. Aber die Algorithmen sollen auch die digitale Mediaplanung und Kampagnensteuerung erleichtern – oder gleich ganz übernehmen. Wie weit kann das gehen?
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Wie wird KI sich auf die Mediabranche auswirken? (© Unsplash)

Die Entwicklung ist schleichend verlaufen: Erst sprach man von Big Data, dann von Automatisierung und Machine Learning, heute muss es schon Künstliche Intelligenz (KI) sein. Das Versprechen: KI zieht aus großen Datenmengen Erkenntnisse, zu denen der Mensch nicht in der Lage wäre, und setzt sie in automatisierten Prozessen um. Auch bei der digitalen Mediaarbeit ist es immer häufiger möglich, auf Autopilot zu schalten – was aber nicht ohne Risiken ist. 

Bei Google etwa ging es Ende 2021 so richtig los. Seitdem sorgt im Werbesystem Google Ads der Kampagnentyp Performance Max dafür, dass sich Werbungtreibende nicht mehr mit der Komplexität der verschiedenen Kanäle im Google-Universum – von der Suche über das Display-Netzwerk bis zu YouTube – herumschlagen müssen. Sie laden einfach ihre Anzeigen und Videos hoch, und das System spielt die Werbung dort aus, wo die Conversion-Leistung am höchsten ist. Die KI kümmert sich um die Höhe der Gebote, um Budgetoptimierung, Attribution und Zielgruppen. Die Werbung wird dort ausgespielt, wo die KI – basierend auf ihrem gigantischen Erfahrungsschatz – die größte Leistung prognostiziert. Laut Google erzielt Performance Max im Durchschnitt 18 Prozent mehr Conversions bei ähnlichen Kosten pro Aktion des Users.  

Defizite bei Transparenz und Kontrolle 

Die Resonanz auf Performance Max ist bislang zwiespältig: Das System macht es zweifellos einfacher, auch komplexe Kampagnen in der Google-Welt zu managen. Allerdings müssen die Werbungtreibenden mit einer Black Box arbeiten: Transparenz und Kontrollmöglichkeiten zu Platzierungen und Preisen fehlen weitgehend.  

Man gehe zudem das Risiko ein, „dass die geschalteten Ads auch dort platziert werden, wo sie die gewünschte Zielgruppe gar nicht erreichen oder sogar in einem unpassenden Umfeld erscheinen“, betont etwa Uwe Walcher, Geschäftsführer der Performance-Marketing-Agentur WebQuantum, in einem Blogbeitrag. Hinzu kommt die Frage: Ist Googles KI wirklich so genial? Um die tatsächliche Effizienz der Kampagnen zu prüfen, sind auf jeden Fall A/B-Tests mit und ohne Performance Max ratsam.  

TikTok verspricht „Hands off“-Kampagnensteuerung  

Auch die Google-Konkurrenten setzen auf Automatisierung und KI. Meta hat 2022 das Auslieferungssystem Advantage+ für Shopping- und App-Kampagnen gestartet. Es unterstützt den Werbungtreibenden bei der Kreation der Werbemittel und spielt sie nach den gewünschten KPIs auf Facebook und Instagram sowie im Messenger und auf den externen Websites des Meta Audience Networks aus. Wie bei Googles Performance Max überlässt man es den lernenden Algorithmen, was wann und wo und in welchem Format gezeigt wird. Auch Advantage+ wird ständig weiterentwickelt: Im Mai wurde unter anderem die neue Funktion Audiences vorgestellt. Sie schlägt eigenständig interessante Zielgruppen vor, die der Werbungtreibende noch nicht berücksichtigt hat.  

TikTok hat im vergangenen Oktober die Smart Performance Campaigns vorgestellt. Sie sollen es ebenfalls ermöglichen, Kampagnen automatisiert auszuspielen, nachdem der Werbungtreibende Ziel und Budget benannt und Creatives bereitgestellt hat. „Es läuft komplett ,hands off‘“, ließ die chinesische Plattform zum Start verlauten. „Werbungtreibende können mit minimalem Aufwand starten.“ Natürlich braucht es eine Menge Vertrauen, wenn man sich auf Systeme verlässt, die auf das Inventar der Anbieter beschränkt sind: Wie gut kann die KI den Erfolg wirklich voraussagen? Was ist mit Brand Safety? Und kann man verhindern, dass der Anbieter nicht auf die Performance des Kunden optimiert, sondern das eigene Inventar bestmöglich auslastet? 

The Trade Desk bildet Lookalike-Zielgruppen  

Aber nicht nur die großen Vermarkter, auch die Adtech-Dienstleister wollen ihren Kunden über KI die Buchung und Steuerung von Kampagnen erleichtern. Vor allem Demand-Side-Plattformen (DSP), über die Kunden programmatische Werbung einkaufen, können damit interessante Mehrwerte schaffen. The Trade Desk etwa unterstützt die Kampagnensteuerung seit 2018 mit dem KI-System Koa. „Die KI hilft im Rahmen der Kampagnensteuerung in den Bereichen Planung, Optimierung und Kosteneffizienz“, erklärt Dominik Laudage, General Manager Client Services DACH. „Das System kann Optimierungen automatisiert durchführen, etwa die Empfehlung, auf eine bestimmte Website überproportional stark zu bieten.“ Es sei aber auch möglich, jeweils händisch zu entscheiden, ob Optimierungsvorschläge umgesetzt werden. „So oder so gewinnt der Mensch dadurch Zeit, um sich auf die strategischen Entscheidungen zu fokussieren“, so Laudage. 

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Dominik Laudage, General Manager Client Services DACH bei The Trade Desk: „Die KI hilft im Rahmen der Kampagnensteuerung in den Bereichen Planung, Optimierung und Kosteneffizienz.“ (© The Trade Desk)

Bei der Zielgruppenplanung stellen die First-Party-Daten des Werbungtreibenden den Ausgangspunkt dar: „Auf dieser Basis kann das System passende Werbeplätze vorschlagen und darüber hinaus auch Lookalike-Zielgruppen bilden“, erläutert Laudage. „In die Empfehlungen fließen auch kontextuelle Signale wie Ort, Tageszeit oder Endgerät ein.“ Das Koa-System ist seit Mai über ein neues, übergreifendes Interface der Media-Buying-Plattform nutzbar, das auch standardisierte Schnittstellen für schnellere Partnerintegrationen und zusätzliche Lösungen zur Kampagnenerfolgsmessung umfasst.  

KI-Start-ups wittern Chance im boomenden Markt  

Die KI-Welle eröffnet auch Start-ups neue Chancen, um mit Speziallösungen zu punkten. Diese sind meist so konzipiert, dass sie sich an bestehende Infrastrukturen ankoppeln lassen. Das Berliner Unternehmen CrossEngage etwa bietet eine Customer Data Platform (CDP) an, die auf Kundenwertberechnungen ausgerichtet ist. Auf dieser Basis stellt sie beispielsweise aus dem CRM-Pool eines Unternehmens eigenständig Zielgruppen für bestimmte Kampagnen zusammen.  

Das Lüneburger Start-up Erason wertet Massen von digitalen Spuren aus, die Menschen im Internet hinterlassen, formt daraus Zielgruppen und erkennt Überschneidungen. Dabei identifiziert die KI Zusammenhänge, die für die Mediaplanung sehr interessant sein können: In welchen Social-Media-Kanälen tummeln sich Mercedes-Fans? Für welche Mode interessieren sich Fortnite-Gamer? 

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Marco Hochstrasser, Co-Founder und CEO von Nexoya: „Das System verbessert sich mit allen Kampagnen, die damit optimiert werden.“ (© Nexoya)

Eine KI für den gesamten Mediaprozess hat das Züricher Start-up Nexoya auf den Markt gebracht. Das System ist als SaaS-Plattform zur Unterstützung von Onlinekampagnen nutzbar und hilft bei der Planung und Optimierung. „Der Kunde gibt entweder Kampagnenziele oder das Budget vor“, erklärt Marco Hochstrasser, Co-Founder und CEO von Nexoya. „Auf Basis seiner bisherigen Werbeaktivitäten liefert die KI dann Prognosen zum Werbeerfolg. Gleichzeitig macht es Vorschläge, wie das Budget besser über die einzelnen Kanäle verteilt werden kann.“ Über Nexoya laufen mittlerweile rund 500 sogenannte Ad-Accounts. Das Unternehmen ist neben der Schweiz in Deutschland und neuerdings auch in Italien präsent. „Das System verbessert sich mit allen Kampagnen, die damit optimiert werden“, sagt Hochstrasser. „Es hat zum Beispiel gelernt, dass im Sommer Instagram besonders gut funktioniert. Diese Erfahrung fließt dann in die Empfehlungsalgorithmen für alle Kunden ein.“ Insgesamt schätzt der Nexoya-Chef, dass mit dem KI-basierten 30 bis 40 Prozent der Kampagnensteuerung automatisiert werden. 

Sind die Mediaagenturen in Gefahr? 

Was bedeutet das alles für die Mediaagenturen? Werden sie durch selbstlernende KI-Systeme zum Auslaufmodell? Diese Diskussion kam bereits 2016 auf. Damals betraten mit Blackwood 7 und SAP XM zwei große Player den Markt, die Media auf KI-Basis revolutionieren wollten. Aber bereits zwei Jahre später waren sie kläglich gescheitert. Auch angesichts der neuen KI-Welle sieht Tobias Wegmann, CTO bei Mediaplus Realtime, keine Gefahr für die Mediaagenturen: „Die KI wird auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein, Preisverhandlungen mit Vermarktern zu führen, neue Kanäle zu bewerten und die Qualität von Werbeplatzierungen sicherzustellen, vor allem hochwertige und aufmerksamkeitsstarke Umfelder.“ Die Arbeit werde aber effizienter: „Künstliche Intelligenz wird die Kampagnensteuerung künftig deutlich erleichtern“, so Wegmann. „Die Operator werden vor allem von den DSPs aktivere Unterstützung bekommen.“ 

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Tobias Wegmann, CTO bei Mediaplus Realtime: „Die Operator werden vor allem von den DSPs aktivere Unterstützung bekommen.“ (© Mediaplus Realtime)

Die Mediaplus Group versucht zudem, die neuen Möglichkeiten so weit wie möglich auch im eigenen Haus zu nutzen. Zwei wichtige Tools, die menschliche Expertise und KI kombinieren, unterstützen die tägliche Arbeit: der Brand Investor zur optimalen Aussteuerung der Budgets und die Emotion Engine, die die Wirkung von Kreation messbar machen soll. Zudem hat die Gruppe im März 2022 einen integrierte und datenzentrierten „Beratungs-, Knowledge- und Realisations-Hub“ gelauncht, in dem alle Ressourcen für eine global skalierbare Kampagnenplanung und Exekution in Echtzeit gebündelt sind. „Es geht vor allem darum, Echtzeit-Signale schneller für die Kampagnensteuerung nutzbar zu machen“, sagt Wegmann. Diese Signale können Daten des Kunden – etwa Store-Visits oder Verkäufe – oder externe Daten wie etwa Google Trends sein. Die vollautomatisierte Mediaagentur, sie wird Realität – allerdings unter der Regie von Menschen. „Man schafft es durch die Echtzeit-Optimierung nun, wirklich alle PS auf die Straße zu bringen“, so Wegmann. 

(kj, Jahrgang 1964), ewiger Soul- und Paul-Weller-Fan, hat schon für Tageszeitungen und Stadtmagazine gearbeitet, Bücher über Jugendkultur und das Frankfurter Bahnhofsviertel geschrieben und eine eigene PR-Agentur betrieben. 1999 zog es ihn aus dem Ruhrgebiet nach Frankfurt, wo er seitdem über Marketing-, Medien- und Internetthemen schreibt, zunächst als Ressortleiter bei „Horizont“, seit 2008 als freier Journalist und Autor. In der Woche meist online, am Wochenende im Schrebergarten.