Kann KI wirklich Kreation bewerten?

Die emotionale Wirkung von Werbung lässt sich nun prognostizieren – und damit auch ihr Erfolg, sagen zumindest die Mediaagentur Mediaplus und das Forschungsinstitut September. Sie wollen Werbetreibenden mit KI helfen, die Kreation von TV-Spots und anderen Werbemitteln zu verbessern.
Emotion Engine: Aus den Daten zu körperlichen Reaktionen errechnet ein Algorithmus Werte zu sieben marketingrelevanten KPIs. (© Stocksy)

Ist das Größenwahn – oder funktioniert es wirklich? Das fragten sich viele in der Branche, als die Münchner Mediaagentur Mediaplus und das Forschungsinstitut September im vergangenen Sommer ihre Emotion Engine vorstellten. Das neue System soll in der Lage sein, den emotionalen Impact von Werbespots nicht nur zu analysieren, sondern die Performance der Kreation auch zu benchmarken. Aber der eigentliche Clou: Mit künstlicher Intelligenz soll es auch möglich sein, die emotionale Wirkung bei den Rezipient*innen vorauszusagen – ohne dafür Testpersonen zu brauchen. Kurz gesagt: Die KI soll beurteilen können, wie gut ein Spot ist.

„Mit der Emotion Engine helfen wir unseren Werbekunden, ihre Budgets optimal einzusetzen“, sagt Andrea Malgara, Geschäftsführer der Mediaplus Group. „Gerade in der aktuell angespannten Situation sollte man unnötige Verluste durch suboptimale Kreation vermeiden. Das Schöne an der Emotion Engine: Sie verrät einem sehr schnell, ob man mit einer Kreation auf dem richtigen Weg ist.“

Wie funktioniert das Ganze? Mediaplus arbeitet mit dem Kölner Forschungsinstitut September zusammen. September untersucht bereits seit einigen Jahren Werbemittel wie TV-Spots, Out-of-Home-Plakate und Social-Media-Posts auf ihre Wirkung bei Verbraucherinnen und Verbrauchern. Dabei misst September über diskrete Sensoren mehr als 20 Biosignale wie Herzschlag, Hautleitwert, Gesichtsmuskeln und Pulsvolumen. Aus den Daten zur körperlichen Reaktion errechnet ein Algorithmus Werte zu sieben marketingrelevanten KPIs: Vertrauen, Sympathie, Attraktion, Nähe, Relevanz, Skepsis und Stress. Ergänzend wird über qualitative Befragungen ermittelt, warum die Befragten das Werbemittel emotional so erleben, wie es gemessen wurde. 

Breite Datenbasis macht umfassende Benchmarks möglich

Alle Ergebnisse dieser sogenannten „Emotional Checks“ fließen in eine Datenbank ein. Hier durchlaufen alle Werbemittel eine zweistufige Codierung. Im ersten Schritt zerlegt ein KI-Tool Bewegtbild sekundengenau in einzelne Sequenzen und listet sämtliche sicht- und hörbaren Signale auf: Welche Szenen sind zu sehen? Wann erscheint das Logo? Gibt es Begleitmusik? In einer zweiten, qualitativen Codierung wird der Spot anhand von wahrnehmungspsychologischen Elementen beschrieben: Handelt es sich um Storytelling? Gibt es einen Wendepunkt? Welche Werte werden transportiert? Dabei werden über 300 psychologische Codings wie zum Beispiel „Stärke“, „gutes Selbstgefühl“ oder „Freiheit“ verwendet. Die Codierungen lassen sich dann mit den Emotions-KPIs verknüpfen. Auf diese Weise weiß die KI, welche Spot-Bestandteile und welche Codings bestimmte emotionale Wirkungen entfalten. Die Datenbank fungiert als Benchmark: Die eingespeisten Testergebnisse machen es möglich, die Wirkung auch von neuen Spots vorauszusagen, die nur codiert, aber nicht mit Proband*innen getestet wurden.

„Entscheider*innen brauchen eine einzige Kennziffer, die die emotionale Qualität eines Werbemittels beschreibt“, sagt Carmen Schenkel. ©September

Basierend auf den Einzel-KPIs und den Benchmark-Daten wird – und das ist der Kern des Ganzen – eine übergreifende Kennzahl, der Emotion Loading Index (ELI), berechnet. Dieser sagt aus, wie ein Werbemittel im Branchen- oder Gesamtvergleich performt. „Entscheider*innen brauchen eine einzige Kennziffer, die die emotionale Qualität eines Werbemittels beschreibt“, kommentiert Carmen Schenkel, Geschäftsführerin September. „Genau diese liefern wir mit dem ELI.“ Darüber kann die Emotion Engine verraten, wie wirksam ein Werbemittel im TV im Vergleich zu einer Platzierung als Online-Spot oder Post in den sozialen Medien ist. Daraus lässt sich erkennen, welche Anpassungen für die einzelnen Kanäle notwendig sind.

Natürlich neigt ein solches System theoretisch dazu, immer das zu empfehlen, was bereits in der Vergangenheit erfolgreich war. Hier ist aber vorgesorgt: „Wir füttern die Datenbank ständig mit neuen Testergebnissen, damit Veränderungen im Wahrnehmungsverhalten einfließen“, betont Schenkel. „Aktuelle kreative Trends und neue Themen und Codes sorgen für die dynamische Weiterentwicklung.“ Zurzeit befinden sich in der Datenbank rund 1200 TV-Spots mit real gemessenen Reaktionen von Proband*innen. Insgesamt umfasst die Datenbank zurzeit rund 2200 Werbemittel.

Rügenwalder punktet mit den Themen Aufbruch und Umbruch

Laut Schenkel gab es bislang „sehr positives Feedback“ aus dem Markt: „Sehr viele Werbetreibende wollen wissen, wie der Impact einer bestimmten Werbung in den verschiedenen Kanälen aussieht.“ Das Gros der Werbetreibenden, die die Emotion Engine bereits getestet haben, will die Resultate nicht kommunizieren. Erste präsentable Cases gibt es aber von der österreichischen Privatbrauerei Fritz Egger (siehe Seite 28–31) und von Rügenwalder Mühle.

Für Letztere wurde ein Spot aus dem vergangenen Herbst analysiert. Der 25-Sekünder stellt das gleichberechtigte Mitei­nander von Fleisch und veganem Fleischersatz vor. Zu sehen ist eine Großfamilie, die sich zum gemeinsamen Essen beide Varianten aufs Brot schmiert. Die Emotion Engine hat den Spot Sequenz für Sequenz untersucht. Resultat: Rügenwalder hat die beiden Welten geschickt verbunden und Codes wie „Genuss“, „Nachhaltigkeit“ und „gutes Produkterlebnis“ genutzt. Vor allem habe der Spot die Motive Aufbruch und Umbruch besetzt, was die Konkurrenz bislang nicht getan habe. Insbesondere in der jüngeren Zielgruppe komme der Spot gut an. Genaue Zahlen aus der Analyse gibt Rügenwalder allerdings nicht bekannt.

Rügenwalder-Spot: Die Kombination von Fleisch- und veganen Produkten kommt bei der jungen Zielgruppe an. ©Rügenwalder

Für Mediaplus-Chef Malgara ist die Emotion Engine genau der Bestandteil, der in der Beratung bislang gefehlt hat. Immerhin geht er davon aus, dass die Qualität der Kreation zu 51 Prozent zum Erfolg einer Kampagne beiträgt, während 49 Prozent auf die Mediastrategie fallen. Zur Bewertung der Mediastrategie hat die Agentur bereits den Brand Investor im Angebot, ein Tool zur Optimierung der Budgetallokation. Mediaplus versucht, neben der emotionalen Wirkung auch die wirtschaftlichen Perspektiven zu bewerten: „Wo vorhanden, arbeiten wir Absatzzahlen in die Datensätze ein, damit wir auch Prognosen über den ROAS (Return on Advertising Spend, Anm. d. Red.) eines Werbemittels abgeben können“, sagt Malgara.

Kann KI am Ende auch kreativ werden?

Ob sich das Benchmarking-System im Markt etablieren wird, lässt sich noch nicht absehen – die Qualität der Codierung lässt sich von außen nicht beurteilen. Aber sollte sich die Emotion Engine bei der Prognose der Werbewirkung wirklich bewähren – was hieße das für den kreativen Prozess der Zukunft? Marketer*innen hätten ein Tool in der Hand, um durch frühe und vor allem externe Analysen zu verhindern, dass die Konzeption einer Kampagne in die falsche Richtung läuft. Sollten aber Kreationen allzu früh der strengen Bewertung durch eine anonyme Instanz unterworfen werden, kann das die Fantasie der Kreativen hemmen und zu schablonenhaftem Arbeiten führen – die Datenbank weiß ja schließlich, wie ein guter Auto-Werbespot aufgebaut ist. Überraschungen könnten Mangelware werden.

Und wie sieht es mit dem nächsten Schritt aus? Kann die KI nicht auf Basis der Benchmarks gleich selbst Vorschläge für die Kreation machen? Es würde in die Zeit passen: Alle reden über die erstaunlichen Fähigkeiten der KI-Software des Unternehmens OpenAI, insbesondere über den Chatbot ChatGPT. Damit ist es längst möglich, auf Knopfdruck Visualisierungen und Texte zu erhalten. Malgara sieht hier aber klare Grenzen: „Künstliche Intelligenz kann und wird die kreative Leistung der Menschen nie ersetzen. Sie kann aber Verbesserungspotenziale aufzeigen.“

(kj, Jahrgang 1964), ewiger Soul- und Paul-Weller-Fan, hat schon für Tageszeitungen und Stadtmagazine gearbeitet, Bücher über Jugendkultur und das Frankfurter Bahnhofsviertel geschrieben und eine eigene PR-Agentur betrieben. 1999 zog es ihn aus dem Ruhrgebiet nach Frankfurt, wo er seitdem über Marketing-, Medien- und Internetthemen schreibt, zunächst als Ressortleiter bei „Horizont“, seit 2008 als freier Journalist und Autor. In der Woche meist online, am Wochenende im Schrebergarten.