Hilfreich oder zerstörerisch? Vom Potenzial der Gewohnheiten

Wie wir zur Arbeit kommen, was wir dort als Erstes machen, ob wir täglich den Umsatz checken oder nie – all das sind Gewohnheiten. Routinen bestimmen einen Großteil unseres Tages, einen Großteil unseres Lebens. Schaden sie uns eigentlich oder sind sie nützlich?

Von Christine Stahr

Morgens auf dem Weg zur Arbeit beim Lieblingsbäcker das Croissant kaufen. Im Hotel zuallererst das Smartphone an die Steckdose. Meetings mit dem Status quo starten. Im Auto Deutschlandfunk hören. Nach dem Essen der Espresso.

Gewohnheiten sind Handlungen, die wir wiederholen, wieder und wieder, ohne darüber nachzudenken. Eingebettet sind Gewohnheiten meist in einen ganzen Kontext: Wir wiederholen die Handlung zur selben Zeit, am selben Ort oder mit denselben Menschen. Am Anfang einer neuen Gewohnheit steht ein Reiz von außen. Der Auslöser kann zum Beispiel das Betreten des Büros sein. An unserem ersten Arbeitstag hat uns vielleicht ein Kollege einen Kaffee angeboten. Der nette Small Talk am Kaffeeautomaten wirkt als Belohnung. Da unser Gehirn Belohnungen liebt, holen wir uns am nächsten Tag als Erstes wieder einen Kaffee. Damit wir uns wieder so fühlen wie gestern, nämlich gut aufgehoben.

Je öfter wir die Handlung wiederholen, umso stärker verselbstständigt sich die damit verbundene positive Emotion: Auch ohne eine nette Unterhaltung am Kaffeeautomaten fühlen wir uns morgens besser, wenn wir als Erstes Kaffee trinken.

Das Gehirn belohnt jetzt die Routine selbst. Die Wiederholung allein gibt uns schon ein gutes Gefühl, dem Verstand ist die Handlung damit nur noch schwer zugänglich.

Verborgene Macht

Gewohnheiten loszuwerden ist deshalb verdammt schwierig. Und wieso auch die Mühe? Immerhin könnten wir ohne Routinen den Alltag nicht bewältigen. Jede Kleinigkeit Tag für Tag neu zu entscheiden würde uns schlicht überfordern – bis zu 50 Prozent all unserer Handlungen bestehen aus Gewohnheiten. „Durch Gewohnheiten wird unser Leben leichter“, erklärt Rainer Höger, Professor für Wirtschaftspsychologie an der Leuphana Universität Lüneburg. „Je mehr routiniert, also automatisiert passiert, desto mehr Energie habe ich für andere Dinge.“

Und dennoch gilt es, wachsam gegenüber Routinen zu sein, denn sie haben auch ein zerstörerisches Potenzial: Gewohnheiten sind der Feind von Veränderungen, notwendigen Anpassungen, von Flexibilität. Kurz: Sie können Lebendigkeit verhindern, denn wer auto-matisiert handelt, nimmt die Handlung kaum noch wahr. Andrea Montua, Geschäftsführerin von MontuaPartner Communications, warnt: „Ein regelmäßiges Meeting kann von heute auf morgen einen unguten Dreh bekommen und zum Beispiel weniger effektiv sein. Um das wahrzunehmen, braucht eine Führungskraft sensible Antennen. Bei einer gewohnten Handlung sind viele allerdings oft weniger achtsam.“

Die Erfahrung, wie schnell eine hilfreiche Gewohnheit sich in eine schädliche verwandeln kann, hat Sandra Braun, CMO bei WHOW -Games, erst vor Kurzem gemacht. „Wir sind ziemlich schnell gewachsen“, erzählt sie. „Wenn ich früher wollte, dass bei einem Spiel etwas verändert wird, bin ich einfach zu dem zuständigen Kollegen gegangen und habe ihn darum gebeten. Das war am effektivsten. Jetzt geht das nicht mehr, dafür sind wir inzwischen einfach zu viele. Der Entwickler würde ständig aus der Arbeit rausgerissen, wenn jeder mit einem Anliegen einfach zu ihm ginge. Zum Glück haben wir die Gewohnheit verändert: Heute muss ich ihm ein Ticket erstellen. Er hat so die Möglichkeit, zu priorisieren und alles nach und nach abzuarbeiten.“

Hilfreiche Gewohnheiten etablieren

Um Gewohnheiten zu verändern oder neue Gewohnheiten zu etablieren, ist es sehr nützlich zu wissen, wie Gewohnheiten entstehen, nämlich durch einen Auslösereiz zu Beginn der Handlung und eine konkrete Belohnung am Ende.

Dieses Wissen hat sich WHOW-Games zunutze gemacht. Das Ziel: Die Grafiker des Unternehmens sollen umsatzorientierter arbeiten. „Die meisten Grafiker wollen vor allem, dass ihr Produkt gut aussieht“, umreißt Sandra Braun die Problematik. „Um ein umsatzorientiertes Verhalten zu etablieren, haben wir unser monatliches Umsatzziel auf Tage runtergebrochen. Einen Monat lang gibt es jetzt jeden Tag, an dem das Umsatzziel erreicht wird, einen Gewinn. Gestern haben wir es zum Beispiel geschafft, deshalb bekommen wir einen Billardtisch fürs Büro. Wenn wir das Umsatzziel heute knacken, singt das ganze Management Karaoke.“ Sandra Braun grinst. „Das wird bestimmt lustig“, meint sie. Sie ist stolz auf die Idee.

Zu Recht, denn das Unternehmen hat geschickt über einen Monat hinweg regelmäßig Auslösereize gesetzt – die täglichen Umsatzziele – und ebenso regelmäßige und vor allem direkt erfahrbare Belohnungen ausgelobt.

Die Aussicht auf eine künftige Belohnung wie zum Beispiel ein langfristiges Unternehmenswachstum und damit die Aussicht auf sichere Arbeitsplätze wäre genauso wenig ausreichend für eine Verhaltensänderung wie die Aussicht, durch regelmäßigen Sport schlanker und gesünder zu werden. Die Belohnung sollte sofort spürbar sein, damit sie ein Verlangen erzeugt und so für eine erste Wiederholung des Verhaltens sorgt.

„Die Mitarbeiter werden kein Ritual verändern, wenn sie keinen Vorteil für sich darin sehen. Dieser Vorteil für die Mitarbeiter – nicht für das Unternehmen oder den Chef – sollte kommuniziert werden“, sagt Andrea Montua und fügt noch hinzu: „Der Nutzen für den Einzelnen sollte größer sein als die Kosten.“ Denn: Kosten hat jedes neue Verhalten. Allein durch den Energieaufwand, der für neue Handlungen aufgebracht werden muss. Bei WHOW -Games scheint die Rechnung aufgegangen zu sein. Bei dem wöchentlichen Meeting am Montag tauschen sich die Kollegen darüber aus, wann das Umsatzziel erreicht wurde und wann nicht. „Das ist jetzt ein echtes Thema“, schwärmt Sandra Braun. „Das sehen wir auch online. Wir arbeiten mit Slack, einem Chat-Tool, da schreibt der Chef dann, ob wir das Ziel erreicht haben oder nicht. Da hagelt es förmlich Kommentare! Die Beteiligung ist echt super.“

Das Reden über die Gewinne und die gemeinsame Anstrengung dafür unterstützen die Ritualisierung des neuen Verhaltens. „Eine Verhaltensänderung wird einfacher zur neuen Gewohnheit, wenn andere Menschen dieses Verhalten schon zeigen, denn Menschen vergleichen sich mit anderen Menschen in ihrer Umgebung“, erklärt Rainer Höger. Er betont auch die Rolle von Vorbildern. Wie die soziale Komponente können auch sie dazu beitragen, ein Verhalten zu stabilisieren, bis es sich schließlich durch die Wiederholung automatisiert hat. Bei WHOW Games werfen dann im Optimalfall alle Mitarbeiter täglich einen Blick auf den Umsatz, die Orientierung daran ist Gewohnheit.