Fünf Ansätze aus der Forschung, die jeder Marketer kennen sollte

Von wegen Elfenbeinturm: An Universitäten und Hochschulen forschen viele kluge Köpfe an Marketingprojekten, die für die Praxis sehr hilfreich sind. Stellvertretend für einen ganzen Pool an interessanten Themen lesen Sie hier, was Marketingprofis über mentale Abstraktion wissen sollten, wie wichtig ein Design Thinking Mindset ist, inwiefern die Digitalisierung den Vertrieb verändert, wie teuer individualisierte Produkte wirklich sind oder warum sich die Beschäftigung mit unsicheren Erwartungen lohnt.
Viele Forschungsprojekte im Marketingbereich sind für die Praxis unmittelbar relevant. (© Unsplash/Vasily Koloda)

Wunsch und Wirklichkeit

Wenn Susanne Adler im Familienkreis erklären soll, wozu sie forscht, dann sagt sie: „Stell dir vor, du willst etwas ganz Bestimmtes kaufen und kaufst dann etwas ganz anderes, als du ursprünglich wolltest.“ Das ist grob vereinfacht, denn tatsächlich beschäftigt sich die Doktorandin am Institut für Marketing der LMU München hochmethodisch mit Konsumentenverhalten, mentaler Abstraktion und der Construal Level Theory (CLT).

„Das eignet sich nicht so für den Party-Talk“, räumt sie ein. Interessant ist das Thema aber allemal: Je weiter jemand von einem Kauf entfernt ist, desto abstrakter ist dieser Kauf. Steht er oder sie dann aber zum Beispiel direkt im Laden, werden die Machbarkeitsaspekte wichtig. Was kostet das Produkt? Wie schwer ist es? Wie kriege ich es nach Hause? Wie lange dauert die Lieferung? Der Kauf wird also konkret, und die Wünschbarkeit tritt gegebenenfalls hinter der Machbarkeit zurück.

Die Argumente für einen Kauf können umso abstrakter sein, je weiter der Kauf entfernt ist. Rückt er näher, müssen sie konkreter werden – kurzum: Am Point of Sale ist eine andere Kommunikation gefragt als in der Image-Werbung. Wichtig: Wenn bei der Wünschbarkeit übergeordnete Ziele ins Spiel kommen, dann ist der Preis nicht mehr so wichtig. So ein Ziel ist zum Beispiel Nachhaltigkeit. Schon die Frage nach dem „Warum?“ oder das Denken an zukünftige Ereignisse könne Menschen zu abstrakterem Denken bewegen, so Adler, und sie dazu veranlassen, ihre Handlungen stärker an übergeordneten Zielen wie Klimaschutz oder Menschenrechten auszurichten. Wieso das für Marketingleute wichtig ist? Weil sie, so die Wissenschaftlerin, ihre Markenstrategien und Point-of-Sale-Kommunikation auf nachhaltige Themen konzentrieren können, indem sie abstraktere Nachhaltigkeitsziele ansprechen oder den Blick auf zukünftige Ereignisse lenken.

Mehr Infos: www.marketing.bwl.uni-muenchen.de

Auf das Mindset kommt es an

Wenn 101 mittelständische und große Unternehmen einen ausführlichen Onlinefragebogen ausfüllen und unter den Antwortenden auch noch zu 60 Prozent Vorständ*innen und Geschäftsführungsmitglieder sind, ist die Relevanz des Themas für die Praxis unbestritten. „Der Beitrag des Design Thinking zur marktorientierten Unternehmensführung“ heißt die Dissertationsschrift von Iphigenie Kiefer, die am Lehrstuhl für Marketingmanagement und Nachhaltigkeit an der HHL Leipzig promoviert.

Derzeit stehen viele Unternehmen vor der Frage, mit welchen Strategien sie dem allgegenwärtigen Wandel begegnen und zukunftsfit werden können. Design Thinking ist ein Weg, den derzeit insbesondere große Unternehmen beschreiten. „Sie erhoffen sich durch den Einsatz von Design Thinking eine höhere Flexibilität und Anpassungsfähigkeit hinsichtlich der ‘Wickedness‘ von Marktbedingungen“, erklärt Iphigenie Kiefer. Geht diese Rechnung auf? Die Doktorandin hat den empirischen Teil ihrer Forschung zusätzlich theoretisch untermauert und ein Messmodell entwickelt. Dabei ging es ihr nicht nur um Design Thinking als Methodenbündel oder als Prozess, sondern auch um die Rolle des Design Thinking Mindsets. Und genau das sollte im Zentrum stehen, denn „Unternehmen mit einem solchen Mindset sind innovativer, marktorientierter und erfolgreicher als andere“, so ein qualitativ wie quantitativ belegtes Ergebnis ihrer Arbeit.

Wer Marktänderungen frühzeitig erkennen und Lösungen mit höherem Nutzwert für die Kund*innen entwickeln wolle, sollte auf Design Thinking setzen. Wer mehr dazu wissen möchte, liest die im Frühjahr im Springer Verlag erscheinende Monografie.

Mehr Infos: iphigenie.kiefer@gmail.com

Das Ende des einsamen Wolfs

Noch vor nicht allzu langer Zeit ging der Vertriebsmensch wie eine Art einsamer Wolf, ausgestattet mit jahrelang erworbenem Herrschaftswissen und hochgradig autonom seiner Arbeit nach. Und jetzt? Gibt es Technologien, Tools, Transparenz und Teamarbeit. Die Digitalisierung sorgt für einen Riesenwandel im Vertrieb, den die Corona-Pandemie noch mal deutlich beschleunigt.

Der einsame Wolf hat ausgedient, empathische Inside-Seller sind gefragt.

Das bietet feinsten Forschungsstoff: Victoria Kramer und Tim Kalwey, beide Doktorand*innen am Marketing Center an der Universität Münster, setzen sich in ihren Promotionsprojekten wissenschaftlich mit der „Digitalisierung im Vertrieb“ auseinander, und zwar insbesondere mit deren Auswirkungen auf die Organisation, mit neuen Vertriebskonzepten und den veränderten Rollenbildern im Vertrieb. Victoria Kramer widmet sich verstärkt den Chancen und Herausforderungen für Vertriebler*innen auf individueller Ebene, Tim Kalwey beschäftigt sich mit dem virtuellen Vertrieb.

Ein Ergebnis: Dank Digitalisierung rücken Inside Sales und Außendienst näher zusammen. War der Innendienst früher eher unterstützend tätig, spielt er heute dank Informationstransparenz eine deutlich größere Rolle. Die Jobprofile ändern sich – und die erforderlichen Fähigkeiten gleich mit. „Es ist heute eine andere Persönlichkeit erforderlich“, sagt Victoria Kramer. Neue Trainingsmaßnahmen sind gefragt, angefangen vom Umgang mit technischen Tools über Empathie bis hin zum virtuellen Verkaufen. „Eine wichtige Fähigkeit des Vertriebs ist es, gut zuhören zu können, das geht auch virtuell, das kann man lernen“, ist Tim Kalwey überzeugt. In Zukunft, da sind sich die beiden einig, wird es einen hybriden Vertrieb geben.

Mehr Infos:

marketingcenter.de/en/mcm/ifm/team/victoria-beatrix-kramer

marketingcenter.de/en/mcm/ifm/team/tim-kalwey

Von goldenen Audis und pinken Wänden

Eine Kollegin von Matthias Fuchs fährt einen goldfarbenen Audi. Sie liebt ihr Auto und ist überzeugt, dass es sich schon wegen der ausgefallenen Farbe eines fernen Tages besonders gut wieder verkaufen lässt. Die Kollegin liegt falsch. Das Gegenteil ist der Fall: Einzigartige Produkte sind – obwohl teurer im Einkauf – auf dem Gebrauchtwarenmarkt weniger wert.

Warum das so ist, belegt Fuchs, Postdoktorand am Institut für Marketing und Customer Insight der Uni St. Gallen, in seinem Promotionsprojekt „Doppelt bezahlte Einzigartigkeit“. Gemeinsam mit Martin Schreier, Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien, fand er unter anderem heraus, dass die Einzigartigkeit von konfigurierten Produkten –seien es Autos, Möbel, Sneaker oder Immobilien – nicht dazu führt, dass deren Wiederverkaufswert steigt. Hoch individuell gestaltete Produkte haben es auf dem Sekundärmarkt schwer, weil ihre Einzigartigkeit ja auf einen anderen Menschen zurückgeht. Man handelt sich mit dem Kauf eines solchen Produkts sozusagen eine Secondhand-Individualität ein – und die will natürlich kaum jemand. Weshalb es sich auch empfiehlt, die pinke Wand zu überstreichen, bevor potenzielle Hauskäufer*innen zur Besichtigung antreten. Oder das schrille Detail bei der Konfiguration der Sofalandschaft besser weg­zulassen.

Warum das für Marketingverantwortliche relevant ist? Weil das Thema Wiederverkauf wichtiger wird. Studien zeigen, dass insbesondere immer mehr junge Menschen gebrauchte Produkte kaufen und verkaufen. Und, so Fuchs: „Immer mehr Marken – zum Beispiel Ikea, Apple oder Nike – sind in einen gesamten Product Lifecycle involviert. Sie sollten sich nicht als Anbieter von hoch individualisierten Produkten positionieren, sondern als Partner für konfigurierbare Produkte.“ Wenn die Marken ihre Kund*innen bei der Konfiguration unterstützen und auf den Wiederverkaufswert aufmerksam machen, erzielen sie einen zweifachen Schutzeffekt: Die Kundschaft ist später nicht enttäuscht und die langfristige Kundenbeziehung bleibt intakt.

Mehr Infos: matthias.fuchs@unisg.ch

Vorsicht vor unsicheren Erwartungen

Es ist hinlänglich bekannt, dass der Vergleich zwischen erwarteter und tatsächlicher Qualität eines Produkts, Kaufvorgangs oder Services die Kundenzufriedenheit beeinflusst. Bislang noch nahezu unerforscht ist hingegen die Frage, wie sich Unsicherheit in den Erwartungen auf die Kundenzufriedenheit auswirkt. Camila Back, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Electronic Commerce und Digitale Märkte der Ludwig-Maximilians-Universität München, setzt sich in ihrer Promotion mit dieser Frage sowohl theoretisch als auch empirisch auseinander. Ihr Fazit: „Unternehmen sollten darauf achten, wie sie Erwartungen kommunizieren, denn unter Unsicherheit sinkt die Kundenzufriedenheit.“

Ihre Forschungsergebnisse sind zum Beispiel für den Onlinehandel hoch relevant. Betrachten wir nur mal das Thema Lieferzeit: Viele Unternehmen kommunizieren bei einer Lieferung eine Punktschätzung, also etwa „Lieferung in 10 Tagen“. Andere avisieren die bestellte Ware binnen einer Zeit-Range, also „Lieferung in 5 bis 15 Tagen“. Der Mittelwert liegt auf demselben Level, also bei 10 Tagen. Dennoch wird in aller Regel die Kundschaft mit der vorgegebenen Range unzufriedener sein als diejenige mit der sicheren Erwartung.

Unternehmen, die Punktschätzungen bieten – und das sind viele, wie ein Blick auf Amazon zeigt –, sollten allerdings pünktlich sein, denn wenn sie zu spät liefern, sinkt die Zufriedenheit und somit womöglich die Wiederkaufwahrscheinlichkeit. ­Insgesamt reduzieren unsichere Erwartungen die Zufriedenheit der Kund*innen. Das sollten Marketingverantwortliche im Hinterkopf haben, wenn es generell ums Kundenmanagement, um die Kommunikation von Erwartungen oder auch um die Kundenrückgewinnung geht.

Mehr Infos:

www.ecm.bwl.uni-muenchen.de/personen/mitarbeiter/back/index.html

Dieser Artikel erschien zuerst in der Januar-Printausgabe der absatzwirtschaft.

(vh, Jahrgang 1968) schreibt seit 1995 über Marketing. Was das Wunderbare an ihrem Beruf ist? „Freie Journalistin mit Fokus auf Marketing zu sein bedeutet: Es wird niemals langweilig. Es macht enorm viel Spaß. Und ich lerne zig kluge Menschen kennen.“