Die Kommerzialisierung der Kommunikation

Im Internet zahlen alle mit ihren Daten, wissentlich und willentlich. Nun droht ein Zeitalter, in dem die Grenze zwischen Konsum und Überwachung verschwimmt. Eine digitale Diktatur. Ein Gastbeitrag.
Roberto Simanowksi: "Das Internet hat Werbung in alle Bereiche der Kommunikation gebracht." (© Stocksy)

Als das Internet in den 1990er-Jahren zum Massenmedium wurde, galt das Mantra „Information wants to be free“: Jede und jeder sollte freien Zugang zu allen Informationen haben. Das war die treibende Kraft für die Verbreitung des WWW und gleichzeitig eine Hypothek. Seitdem will niemand für etwas im Netz Geld bezahlen. Doch mit irgendetwas müssen Unternehmen ihre Investitionen finanzieren und Gewinne machen.

Wir zeigen Werbung, antwortete Facebook-Chef Mark Zuckerberg im Frühjahr 2018 auf die Frage, wie es seine Firma eigentlich schaffe, ihre Dienste kostenlos anzubieten. Der Anlass war eine Anhörung vor dem Kongress zum Cambridge-Analytica-Skandal. Die Tragweite des Übels, das dieses Geschäftsmodell hervorbringt, wird demokratischen Gesellschaften erst langsam bewusst. Da Facebook die Daten und die damit einhergehende Aufmerksamkeit seiner Nutzer verkauft, richtet es seine Algorithmen so aus, dass diese immer öfter wiederkommen – und dabei immer mehr von sich preisgeben. Das nahezu perfekte Perpetuum mobile wird durch Informationsfilter am Laufen gehalten, die auf Bestätigung und Sensation setzen.

Im Netz gibt es keine Bürger, sondern nur Konsumenten

Blasen und Fake News sind damit zur unvermeidlichen Folge einer Firmenkultur geworden, die sich einzig an Gewinnmaximierung orientiert. Eine andere Konsequenz ist: Was immer wir im Netz tun – kommunizieren, uns informieren, neue Inhalte publizieren – wir werden nicht mehr als Bürger oder Nutzer, sondern immer und überall als Konsumenten wahrgenommen und angesprochen. Egal, ob die Plattformen Facebook, TikTok, Instagram oder YouTube heißen. Die Frage ist: Warum formiert sich dagegen kein Widerstand in der bürgerlichen Gesellschaft?

Vor gut einem Vierteljahrhundert häuften sich auf dem US-Literaturmarkt konsumkritische Titel wie etwa „The Overspent American. Why We Want What We Don’t Need” oder „Do Americans Shop too Much?”. 2003 wurde sogar ein „Do Not Call Registry“ eingerichtet, eine schwarze Liste für Telemarketing, auf die man seine Telefonnummer setzen lassen konnte, um Ruhe vor lästigen Werbeanrufen zu haben. Von diesem kritischen Geist ist heute nichts mehr zu spüren. Das Internet hat Werbung in alle Bereiche der Kommunikation gebracht. Es hat zum einen den E-Commerce zum Social Commerce erweitert, wenn Werbung sich nun als Kommunikation verkleidet – durch „Made-for-AdSense“-Texte zum Beispiel (die von Nutzern generiert werden, um im Rahmen von Googles AdSense-Werbemodell für Klicks vergütet zu werden) oder durch das Empfehlungsmarketing von Influencern. Zum anderen ist Werbung über Cookies und Log-ins personalisierbar geworden. Die Websites, die wir besuchen, die Likes, die wir vergeben, die Videos, die wir schauen – all das ist nun Basis eines zielgerichteten, datengetriebenen Marketings. Die Bürgerin und der Bürger sind digital gläsern geworden. Was vor einigen Jahren noch im politischen Diskurs als dunkle Dystopie galt, wird heute nur allzu selten kritisch hinterfragt.

Überwachung als Angebot

Dabei ist Überwachung, so die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff in ihrem Buch Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus (2018), eine Folge des Kapitalismus. Denn dem ökonomischen Grundgesetz der Gewinnerwirtschaftung ist am besten gedient, wenn Unternehmen die Interessen ihrer potenziellen Kundschaft kennen. Zuboff fordert, diesem Trend entgegenzusteuern, indem die Erhebung privater Daten gesetzlich verboten wird. Aber sie mahnt auch die Nutzer, durch ihr Verhalten den Datensammlern nicht Tür und Tor zu öffnen, indem sie lieber ihre Daten hergeben, als für eine App zu zahlen oder sich Zeit für die Cookie-Einstellungen zu nehmen.

Doch was ist eigentlich einzuwenden gegen den Wunsch, seine Kunden besser zu kennen, um sie besser bedienen zu können? Anders als in einer totalitären Diktatur führt in einer liberalen Demokratie die Transparenz der Bürger ja nicht zu Sanktionen, sondern zu besseren Service-Angeboten. Die Logik dahinter: Solange das Ziel akzeptabel ist, sind auch die Mittel geheiligt. Doch wollen wir diese Argumentation wirklich so übernehmen?

Dataveillance als Weltverbesserung

Die Überwachungskapitalisten sind schon einen Schritt weiter. Sie formulieren viel ehrenhaftere Absichten als den Anreiz zum Hyperkonsum. Das Zauberwort heißt „Purpose“. Damit sind Ziele gemeint, die dem Gemeinwohl und der Nachhaltigkeit dienen. Immer ist dabei der gläserne Mensch das Mittel zum Zweck – durch „Dataveillance“, wie der Fachausdruck heißt. Ein Beispiel dafür: Googles Project Baseline zur Kartierung der menschlichen Gesundheit. Dabei sammeln die Teilnehmer Daten über ihren körperlichen Zustand und ihren Tagesablauf durch Interviews, Daten zum Ess- und Bewegungsverhalten sowie durch Wearables für die Messung von Puls und Schlafzyklus. Googles Losung: „Deine Teilnahme wird wissenschaftliche Entdeckungen ermöglichen, die uns allen helfen werden, gesünder zu leben.“

Wie weit Googles Träume zur Analyse individueller Daten im Interesse der Allgemeinheit reichen, zeigt das Gedanken­experiment The Selfish Ledger, dessen Video 2018 geleakt wurde. Hier erscheint der Mensch schon gar nicht mehr als Eigentümer, sondern als Zwischenwirt seiner Daten, die er der Menschheit zu ihrer Vervollkommnung schuldig sei. Denn ebenso wie das „gene sequencing“ gebe das „behavioral sequencing“ Einblicke in das Wesen des Menschen und ermögliche dessen Optimierung. Der oder die Einzelne ist gläsern für die Gemeinschaft.

Vielleicht war es dieses Gedankenexperiment, was den Deal mit Google für eine „smarte Stadt“ in Torontos Bezirk Quayside platzen ließ. Die Kommunalpolitiker fürchteten, dass Google die Daten, die diese Stadt über ihre Bewohner liefert, für sein Geschäftsinteresse nutzen würde. Keine unberechtigte Sorge, immerhin ist auch Google zuallererst seinen Aktionären verpflichtet und nicht der selbstlosen Verbesserung der Welt.

Trotzdem wird die smarte Stadt kommen. Die wissenschaftlichen Artikel dafür werden längst geschrieben und versprechen eine Optimierung nicht nur der Werbung und des Konsums, sondern eben auch der Gesellschaft durch Big Data. Aggregiert und ausgewertet werden die Daten von den Metas, Googles, Ubers oder Airbnbs dieser Welt – daran wird Zuboffs Warnung vor den Überwachungskapitalisten nichts ändern. Die Frage ist, ob und wie die Kommunen als politische Vertretung der Bürgerschaft Zugang zu diesen Daten erhalten, um diese wirklich so einzusetzen, wie Google verspricht: in erster Linie zur Verbesserung der Gesellschaft – und nicht zur Erhöhung des Unternehmenswertes.

©Roberto Simanowski

Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienwissenschaftler und forscht nach Professuren in den USA, Hongkong und der Schweiz an der FU Berlin zur Kommunikation mit künstlicher Intelligenz. Simanowski hat mehrere Bücher in Deutschland und den USA zu Kunst, Kultur und Politik der digitalen Medien veröffentlicht. Sein Buch Todesalgorithmus. Das Dilemma der künstlichen Intelligenz erhielt den Tractatus-Preis für philosophische Essayistik 2020.

Dieser Text erschien zuerst im Handelsjournal.