„Viele verstehen nicht, dass Marketing Differenzierung bedeutet“

Bauen Sie Ihre Marke in Ruhe auf, sehr konsequent und Schritt für Schritt. Schaffen Sie möglichst frühzeitig so viel Anteile am Markt, dass Sie gut überleben können. Hans G. Güldenberg, Managing Director der Nestlé Food LLC in Moskau, spricht darüber, was es heißt, internationale Marken in Russland aufzubauen und Marktsegmente zu erschließen.

Wie attraktiv ist es für Markenhersteller, nach Russland zu gehen?

Wie attraktiv ist es für Markenhersteller, nach Russland zu gehen? Die Situation hier hat deutliche Parallelen zu Deutschland in den fünfziger und sechziger Jahren. Es herrscht Aufbruchstimmung. Der große Unterschied ist, dass der Aufholprozess sehr viel schneller verlaufen wird als in den westeuropäischen Märkten. Insofern ähnelt Russland den boomenden Regionen Asiens, zum Beispiel Südkorea oder den Tigerstaaten.

Sie sind seit Mitte der neunziger Jahre in Russland tätig. Welche Tipps können Sie Markenartiklern geben, die hierher expandieren möchten?
Bauen Sie Ihre Marke in Ruhe auf, sehr konsequent und Schritt für Schritt. Schaffen Sie möglichst frühzeitig so viel Anteile am Markt, dass Sie gut überleben können. Auch in Russland ist es besser, Marktführer zu sein. Eine Binsenweisheit, aber absolut zutreffend. Wir haben viel dafür getan und darum sind wir praktisch auch in allen Marktsegmenten Marktführer.

Wie sind Sie bei Nestlé vorgegangen?
Nestlé war hier keine bekannte Marke. Wir haben Nestlé neu aufbauen müssen. Dabei haben wir uns bewusst für eine Konzentration auf Nestlé Classic entschlossen. Nestlé Classic hat heute zwar einen Marktanteil von etwas unter zehn Prozent, ist hier aber nach wie vor eine relativ kleine Marke. Neben dem Aufbau unserer internationalen Hauptmarken haben wir ganz konsequent durch Akquisitionen von Fabriken und die Wiederbelebung einzelner russischer Marken Segment für Segment für uns erschlossen. Das waren hoch interessante Prozesse aus Marketingsicht.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen wir zum Beispiel das Schokoladensegment. In der Sowjetunion gab es unzählige Fabriken mit sehr geringen Produktionsmengen. Lediglich in Samara wurde 1966 eine neue Produktionsstätte gebaut, die sich ausschließlich auf die Produktion von Schokolade spezialisierte. Bereits damals hatte man dort verschiedene Markennamen ausprobiert, zum Beispiel „Komsomoljez“ und andere. Am besten jedoch wurde der Name „Rossija“ (deutsch: „Russland“) akzeptiert. Und unsere Leute haben erkannt, dass hinter dem Markennamen „Rossija“ und der Bekanntheit der Marke ein ausbaufähiger Markenkern steckt. Daher wurde der nichtssagende Name „Rossija Schokoladenfabrik“ geändert in „Rossija Schedraja Duscha“ (deutsch: Russland – Großherzige Seele). Das Markensignet wurde um eine dreidimensionale Zwiebelkuppel ergänzt, der an die orthodoxen Kirchen erinnert. Heute ist diese Marke mit etwa. 30 Prozent Anteil mit Abstand Marktführer und gehört zu den Superbrands in Russland.

Wie schlagen sich Ihre einheimischen Wettbewerber derzeit?
Zum einen haben viele der russischen Mitwettbewerber bis jetzt keine nationale Markenposition erreicht, sie sind eher regional aufgestellt. Die Marke „Krasnij Oktjabr“ (deutsch: „Roter Oktober“) beispielsweise ist lediglich in Moskau sehr präsent. Zum anderen spielt das vorhandene Markenwissen in den Unternehmen eine sehr große Rolle. In diesem Zusammenhang kann man zurzeit eine Reihe klassischer Marketingfehler beobachten. Viele von ihnen haben zum Beispiel noch nicht verstanden, dass Marketing Differenzierung bedeutet. Sie meinen, Markenführung funktioniert auch durch Nachahmung des Marktführers.

Das Gespräch führte Prof. Dr. Margit Enke, Inhaberin des Lehrstuhls für Marketing und Internationalen Handel an der TU Bergakademie Freiberg, mit Hans G. Güldenberg, Managing Director der Nestlé Food LLC in Moskau.

Einen ausführlichen Bericht zum Thema „Marketing in Russland“ finden Sie in der Sonderausgabe absatzwirtschaft marken 2005.