Von Dr. Reiner Czichos
Es ist erstaunlich, wie wenig professionell Changeprojekte selbst in Großunternehmen gemanagt werden – dazu ein Beispiel: Da beschließt das Topmanagement eines weltweit agierenden Finanzdienstleisters aufgrund durchaus nachvollziehbarer Gründe, in allen nationalen und internationalen Töchterunternehmen eine bestimmte Veränderung durchzuführen. Das Unternehmen hat nach dem Motto „Von den Besten lernen“ die Auftragsbearbeitungsabläufe analysiert – und die Strategien und Methoden des Tochterunternehmens, das objektiv am besten abgeschnitten hat, sollen nun den anderen Firmen als Vorbild dienen.
So weit, so gut. Doch dann wird der Veränderungsprozess quasi „in Auftrag gegeben“, ohne dass den Verantwortlichen in den Töchterunternehmen die Gründe dafür kommuniziert würden. Ist dies böser Wille oder lediglich auf die schiere Größe und damit Schwerfälligkeit des Riesentankers „Unternehmen“ zurückzuführen? Oder ist eine Überheblichkeit und Arroganz am Werke, nach der „wir da oben“ schon wissen, was für „die da unten“ gut ist?
Verheerende Folgen
Der authentische Fall geht weiter, als wolle das Topmanagement nachweisen, Paul Watzlawicks Satz „Wir können nicht nicht kommunizieren“ sei eine große Lebenslüge und absolute Nicht-Kommunikation durchaus möglich. Denn die Veränderung findet statt, ohne dass die Beteiligten aktiven Einfluss auf den Veränderungsprozess nehmen könnten. Die Führungskräfte in den Töchterunternehmen bekommen das Changeprojekt übergestülpt und sollen die Auftragsbearbeitung übernehmen, ohne die Gründe nachvollziehen zu können – ja, sie lernen sie erst gar nicht kennen.
Doch damit nicht genug, das Schneeballsystem kommt jetzt erst so richtig in Fahrt. Denn nun haben die Linienmanager die schwierigste Aufgabe zu meistern, die am stärksten Betroffenen zu Beteiligten zu machen: die Mitarbeiter, die die Auftragsbearbeitung erledigen.
Das ist so gut wie unmöglich. Denn wie soll der Linienmanager, der den Changeprozess selbst nicht nachvollziehen kann und entsprechend unmotiviert zu Werke geht, dessen Sinnhaftigkeit glaubwürdig an die ausführenden Mitarbeiter kommunizieren? Wie ihnen die Notwendigkeit der geänderten Auftragsbearbeitung erklären? Wie sie vom Nutzen überzeugen? Ein Linienmanager klagt: „Es wurden ja nicht einmal die kulturellen Unterschiede berücksichtigt. Man kann die Länder bei der Ausgestaltung der Auftragsbearbeitung einfach nicht über einen Kamm scheren.“
So kommt es, wie es kommen muss: Die Einführung des Auftragsbearbeitungssystems verursacht ein Chaos, zieht seitens der Mitarbeiter Verunsicherung, Frust, Demotivation, schlechtes Betriebsklima und innere Kündigung nach sich. Aus deren Sicht sind die unmittelbaren Führungskräfte und Linienmanager schuld, die sich vom Topmanagement zudem den Vorwurf gefallen lassen müssen, sie hätten den Changeprozess nicht „ordnungsgemäß“ implementiert. Also von denjenigen, die mit ihrer Desinformationspolitik und der Kultur der Nicht-Kommunikation den Stein des Changescheiterns überhaupt erst ins Rollen gebracht haben.
Das Problem: Change lässt sich nicht ex cathedra, lässt sich nicht „vom päpstlichen Stuhl aus“ durchsetzen, er muss von den Beteiligten getragen, gelebt, vielleicht sogar geliebt werden, und zwar von allen Beteiligten.
Veränderung begründen
Es ist eigentlich gar nicht so schwer: Veränderung birgt immer, selbst bei kleinen Veränderungen – wie es etwa der Umzug in ein neues Büro ist –, Konfliktpotential in sich und hat Frust und Produktivitätsverluste zur Folge, wenn denn so vorgegangen wird wie bei jenem Großunternehmen. Stellen Sie sich doch einmal vor, ein solcher Umzug stünde bei Ihnen an. Wir würden Ihre Mitarbeiter reagieren, wenn Sie argumentieren, der Umzug sei notwendig und nützlich, weil:
- das neue Büro in der Nähe der wichtigsten Kunden liegt,
- die Miet- und Nebenkosten verringert werden,
- die repräsentativen Räumlichkeiten den Zugang zu einer neuen Kundenklientel ermöglichen und
- all diese Gründe die Sicherheit der Arbeitsplätze vergrößern und Mehrumsätze versprechen.
Wenn überdies der eine oder andere Mitarbeiter die Fahrtkosten zum Arbeitsplatz verringern kann und die Lebensqualität im neuen Stadtviertel besser ist als die im alten, kommen persönliche Gründe hinzu, die Ihre Mitarbeiter von der Notwendigkeit und vom (persönlichen) Nutzen des Umzugs überzeugen werden.
Notwendigkeit und Nutzen
Der Changeprozess jenes Finanzdienstleiters ist von der Größenordnung her nicht mit einem Büroumzug zu vergleichen – aber die Gesetzmäßigkeiten, die bei der Implementierung des Veränderungsprozesses zu beachten sind, schon:
- Allen Beteiligten wird die Notwendigkeit des Change erläutert; dabei werden die negativen Folgen nicht verschwiegen, die entstehen, wenn die Änderung der Auftragsbearbeitungsabläufe verzögert wird oder nicht stattfindet.
- Allen Beteiligten wird der berufliche und persönliche Nutzen aufgezeigt, den die aktive Gestaltung des Change mit sich bringt.
Der Prozess muss top-down organisiert werden. Das Topmanagement des Finanzdienstleistungsunternehmens sollte erkennen, dass es den Change zwar an der Spitze konzipieren und planen kann – die Veränderungen selbst müssen von den Linienmanagern in den Ländern eingeführt werden.
Während die Notwendigkeit und der Nutzen des Büroumzugs im Rahmen einer Mitarbeiterversammlung geklärt werden kann, ist es bei unserem Finanzdienstleister unerlässlich, in allen Standorten Changemanagementworkshops mit den jeweiligen Führungsteams zu veranstalten. Dort muss ein Teamgeist entfaltet werden, der bei den Führungskräften ein Feuer der Changebegeisterung entfacht, so dass sie dieses auch bei ihren Mitarbeitern zum Lodern bringen können.
Gründe sammeln
In den Changemanagementworkshops überzeugen sich die Führungskräfte in einem Denk- und Diskussionsprozess von der Wichtigkeit und Dringlichkeit, von der Sinnhaftigkeit und Machbarkeit der Veränderung. Es gilt die alte Weisheit des Augustinus: „Du kannst nur das in anderen entzünden, das in Dir selbst brennt.“ Der Mentalitätswandel und der Überzeugungsprozess müssen sorgfältig geplant werden. Dies gelingt, wenn die Führungskräfte in den Workshops die konkreten Gründe sammeln, die den Changeprozess notwendig machen, zum Beispiel:
- Um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, müssen wir (wieder) zum Innovationsleader werden.
- Die Kunden wollen immer mehr Leistung für immer weniger Geld.
- Bisher haben wir eine Nische besetzt – nun drängt der Wettbewerb dort hinein.
- Wir schöpfen unsere Mitarbeiterpotentiale nicht optimal aus.
- Als Großunternehmen müssen wir Synergieeffekte nutzen.
- Eine kräftige Kostensenkung ist notwendig.
- Wir müssen die Vertriebsstrukturen erweitern.
- Der neue Eigentümer hat andere Ziele und Vorgaben als der Vorgänger, die Analysten setzen höhere Ziele – kurz: Die Stakeholder, insbesondere die Shareholder, melden Ansprüche an.
Den Schmerzhebel benutzen
Viele weitere Gründe sind denkbar. Zu überlegen ist, ob bei der Ursachendarstellung der Schmerzhebel genutzt werden muss. Die Motivationsforschung geht davon aus, dass es prinzipiell zwei Möglichkeiten gebe, Menschen zu motivieren: Die eine Variante setzt auf Selbstmotivation, auf Einsicht und Freiwilligkeit, auf Belohnung und Anreizsysteme, die den Menschen dazu bewegen, selbst unangenehme Veränderungen zu akzeptieren und aktiv in Gang zu setzen. Die andere stellt die Furcht und Angst in den Vordergrund: die Angst, das bisher Erreichte zu verlieren, führt zu den notwendigen Veränderungsprozessen.
Liebe oder Hiebe: Mitarbeiter – übrigens auch Führungskräfte – akzeptieren Veränderungen oft erst dann, wenn das Alte sie schmerzt. Und zwar so sehr, dass ihnen die Veränderung als einziger Ausweg erscheint, den Schmerz zu vermeiden oder zu reduzieren.
So kann es durchaus sinnvoll sein, Mitarbeiter „krank vor lauter Schmerzen“ zu machen und etwa als Folge nicht bewältigter Veränderungen die Übernahme durch den Konkurrenten an die Wand zu malen. Die Mitarbeiter wissen nun: Ihre Jobs, ihre Projekte und ihre Zukunft hängen von der Problemlösung ab. Und schließlich wird Ihnen die „Veränderung“ als Problemlösung präsentiert.
Den Freudehebel ansetzen
Mit Zuckerbrot und Peitsche: Nach meiner Erfahrung sind die Hiebe ab und zu angebracht, die Liebe jedoch ist Erfolg versprechender. Deswegen steht in den Changemanagementworkshops die Formulierung der „Benefits“ für die Mitarbeiter im Vordergrunde. Der Mitarbeiternutzen einer Veränderung könnte darin liegen, dass:
- die individuellen Fähigkeiten des Mitarbeiters entwickelt und neue Weiterbildungsangebote unterbreitet werden können,
- ser Mitarbeiter erlebt, dass er gebraucht wird – weil er aktiv am Changeprozess beteiligt ist,
- die Sicherheit der Arbeitsplätze deutlich zunimmt,
- neue Gehaltsspielräume und attraktive Entlohnungsmöglichkeiten entstehen,
- Professionalität und Effektivität an den Arbeitsplätzen zunehmen und
- neben materiellen Vorteilen immaterielle Vorteile winken: Der Mitarbeiter kann sich mit Arbeitgeber und Unternehmen besser identifizieren, hat mehr Spaß und Freude bei und an der Arbeit. Der einzelne Mitarbeiter erfährt eine Kompetenzsteigerung und wird für den Arbeitsmarkt interessanter.
Glaubwürdig vorgehen
Die Nutzendarstellung darf sich nicht in leeren Versprechungen erschöpfen, die Führungskräfte müssen nach den Workshops den Mitarbeitern mit Benefits entgegentreten können, die mit hoher Wahrscheinlichkeit realisierbar sind.
Unerfüllte Versprechungen hinterlassen verbrannte Erde. Werden die Ursachen und Gründe für den Changeprozess sowie die Nutzenaspekte hingegen argumentativ sauber präsentiert, werden in den Changemanagementworkshops mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die Linienmanager stehen voll und ganz hinter dem Changeprozess und können andere von dessen Notwendigkeit und Nutzen glaubwürdig überzeugen. Und das Topmanagement hat endlich seine Hausaufgaben gemacht.
Jetzt müssen die Führungskräfte „nur noch“ in ihre Funktionen zurückkehren – und Überzeugungsarbeit an der Mitarbeiterfront leisten.
Der Autor: Dr. Reiner Czichos ist Experte für professionelles Veränderungsmanagement und arbeitet seit über 30 Jahren als Trainer, Berater, Moderator, Organisations- und Personalentwickler.