Die Diskussion um Aufwand und Nutzen von „Radio Frequency Identification“ (RFID) reißt seit rund zehn Jahren nicht ab. Was ist der aktuelle Stand in Praxis und Forschung?
FRẾDẾRIC THIESSE: Für die anfänglichen Problemstellungen auf der technischen Ebene gibt es heute eine Vielzahl von praxistauglichen Lösungsansätzen. Implementierungen sind jedoch bislang meist auf reine Prozessautomatisierung beschränkt, das heißt, sie sind als Ersatz für manuelle Barcode-Scans zu betrachten. Die aktuelle Herausforderung besteht nun darin, auch den Wert von RFID zur besseren Informatisierung oder Transformation betrieblicher Abläufe zu verstehen und umzusetzen. Ähnlich wie beim Barcode vor 30 Jahren wird es darauf ankommen, die in Massen anfallenden Rohdaten für das Management nutzbar zu machen.
Händler haben erfahrungsgemäß eher geringe Ambitionen, Chips an Produkten anzubringen, sodass dies Lieferanten übernehmen müssten. Worin besteht denn der Nutzen für die Lieferkette und hat diesen bereits ein Unternehmen erkannt?
THIESSE: Ein nahe liegender Nutzen kann in der Substitution von Warensicherungsetiketten liegen. Die Kosten für einmal genutzte RFID-Tags, die zum Beispiel ab Werk in Textilien eingenäht werden, liegen bereits heute unter denen der proprietären Diebstahlschutz-Tags, auch wenn man deren Mehrfachnutzung mit einbezieht. Auf dieser Grundlage können dann weitere Nutzeneffekte realisiert werden, die von der höheren Transparenz über Bestände und Transporte bis hin zur Analyse von Filialprozessen und dem Verhalten von Kunden auf der Verkaufsfläche reichen. Firmen wie Gerry Weber sind hier Vorreiter, die RFID bereits über die komplette Lieferkette ausgerollt haben.
Mit welchen Kosten sollten Betriebe generell bei der technischen Implementierung rechnen?
THIESSE: Einerseits sind die Kosten für Transponderlabels und Lesehardware zu berücksichtigen. Die entsprechenden Preise sind in den vergangenen Jahren rapide gesunken. Eine Vereinbarung mit Partnern in der Lieferkette kann helfen, die Investitionen auf mehrere Schultern zu verteilen. Leicht übersehen werden jedoch die je nach Innovationshöhe der angestrebten Lösung anfallenden Kosten für die Prozessneugestaltung, die Schulung der Mitarbeiter, die Integration in die Systemlandschaft des Unternehmens sowie den laufenden Betrieb.
Wenn man vom Kleidungs-/Textilhandel als Vorreiter abstrahiert, für welche Branchen ist ein Nutzen dann noch realistisch abzusehen?
THIESSE: Besonders attraktiv ist RFID immer dann, wenn die Identifikation des einzelnen Objekts – und nicht nur des Produkttyps – betriebswirtschaftlich wertvoll ist. Bei Joghurtbechern ist dies eher nicht der Fall, bei Textilien in unterschiedlichen Farben, Größen und Materialien aber sehr wohl. Ähnliches gilt auch für Medikamente, Autoteile oder kundenindividuell gefertigte Güter im Allgemeinen sowie Transporthilfsmittel aller Art. Darüber hinaus kann RFID dort attraktiv sein, wo eine manuelle Erfassung zeitlich oder kostenmäßig nicht praktikabel ist. Nicht zuletzt bietet RFID die Möglichkeit zur Datenspeicherung am Objekt oder zur Sensordatenerfassung. Dies ist beispielsweise in der Kühlkette oder bei der Wartung von technischem Equipment relevant.
Wie wird sich Ihre Technik in Zukunft weiter entwickeln und wann ist sie aller Voraussicht nach als etabliert anzusehen?
THIESSE: Hier wird es Entwicklungen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten geben. Variantenvielfalt, Überbestände oder Diebstahl- und Plagiatsgefahr sind bereits heute betriebswirtschaftliche Treiber, die RFID zum Durchbruch in verschiedenen Anwendungsbereichen verhelfen. In anderen Bereichen wird es eventuell erst einen weiteren Technologiesprung brauchen, bis RFID attraktiv wird. Auch der Barcode benötigte zum Durchbruch 20 Jahre sowie verschiedene komplementäre Innovationen und ist dennoch heute allgegenwärtig. Der Trend dorthin ist für RFID jedoch klar und nicht mehr aufzuhalten.
Die Fragen stellte Martina Monsees.
Frédéric Thiesse ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsinformatik und Systementwicklung an der Universität Würzburg. Im November 2010 verlieh ihm die britische Operational Research Society für seine Forschung an der RFID-Technik die Stafford-Beer-Medaille.