Outdoor-Pionier: Wie Ortlieb aus Käufern Fans macht

Ortlieb hat vor fast 40 Jahren die wasserdichte Fahrradtasche erfunden – und fertigt zu 100 Prozent in Deutschland. Der Pionier für Outdoor-Zubehör bietet auch Amazon selbstbewusst die Stirn. Mit Martin Esslinger als neuem Geschäftsführer wurde Anfang 2021 ein Generationswechsel eingeleitet – und alles bleibt anders.
"Keep dry what you love" lautet der Markenclaim von Ortlieb. (© Ortlieb)

Von Stefan Merx

Als sich am Morgen des 23. März die MV Ever Given im Suezkanal verkeilte und für sechs Tage Europas wichtigsten Seeweg nach Asien blockierte, konnte Martin Esslinger gelassen bleiben. Auf Nachschub aus Fernost wartet der Geschäftsführer der Radtaschen-Kultmarke Ortlieb selten.

„Wir konnten weiterproduzieren, weil wir die Fertigung zu 100 Prozent selbst in der Hand haben“, sagt Esslinger. „70 Prozent unserer Materialien stammen aus Deutschland, der Rest bevorzugt aus Europa.“ Die kurze Lieferkette endet teils in der direkten Nachbarschaft. „Unser wichtigster Spritzguss-Zulieferer für die Aufhängungen muss nur einmal über die Straße.“

Ortlieb macht alles inhouse

Ortlieb hat mit seinen 285 Mitarbeitern nur eine einzige Fertigungsstätte für das wasserdichte Gepäck. Und die steht in Heilsbronn, einem Städtchen in Mittelfranken. Selbst viele der Fertigungsmaschinen, etwa jene für das Hochfrequenz-Verschweißen von Gewebenähten, hat Ortlieb im eigenen Werkzeugbau selbst erdacht und gefertigt: „Wir machen alles inhouse – von der ersten Idee, bis die fertige Tasche das Lager verlässt“, sagt Esslinger.

Jürgen Siegwarth (l.) und Martin Esslinger (r.) komplettieren neben Firmengründer Hartmut Ortlieb die Geschäftsführung. (Foto: Ortlieb)

Der heute 39-jährige Volkswirt stieg 2016 als Vertriebschef ein, im Februar 2021 berief ihn der Gründer und alleinige Firmeneigentümer Hartmut Ortlieb zum dritten Geschäftsführer neben sich selbst und dem branchenerfahrenen Jürgen Siegwarth. Der Generationswechsel ist damit sichtbar eingeleitet. Esslinger steht für Kontinuität, aber auch den Wunsch, die Marke stärker als bisher zu digitalisieren und zu internationalisieren.

Hartmut Ortlieb: Geschäftsidee im Platzregen

„Hartmut Ortlieb ist unser Daniel Düsentrieb“, sagt Esslinger über den Gründer und Tüftler der ersten Stunde. „Es gibt keinen Morgen, an dem er nicht mit einer Idee aufwacht.“ Legendär seine Radtour 1981 durch Südengland, als ein Platzregen seine gesamten Klamotten samt Schlafsack in den mitgeführten Beuteln durchnässte.

Vorbeirauschende Laster brachten ihn auf die Frage, warum man nicht aus dicken Lkw-Planen eine wasserdichte Satteltasche schneidern könnte. Daheim bat er seine Mutter um ihre Nähmaschine, eine Bernina Record, um die erste Kollektion zu fabrizieren – zuerst für den Eigenbedarf und seine Freunde.

Hartmut Ortlieb, der große Autodidakt

Als immer mehr Leute anklopften, baute Ortlieb als Abiturient das Unternehmen auf. „Hartmut Ortlieb ist ein großer Autodidakt, Spezialist in vielen Bereichen – und immer von der Idee getrieben“, lautet Esslingers Charakterisierung. Als Leiter von Produktion und Entwicklung sei der Gründer noch „sehr präsent“.

Der Grundidee bleibt man immer treu: Robust, langlebig und wasserdicht muss es sein. Diesen Anspruch erfüllt jedes der mittlerweile rund 500 Produkte. „Keep dry what you love“ lautet der Markenclaim.

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Was auf der Radtour, der Bergwanderung oder dem Weg ins Büro vor Nässe oder Staub geschützt werden soll, kommt in das Gepäckstück. Auch das typische Verschlusssystem ist eine Erfindung aus dem Hause Ortlieb: Der Rollverschluss, der durch mehrfaches Umschlagen des oberen Taschenrands dichthält. Inzwischen ein oft kopierter Klassiker. „Unser Backroller, die Fahrradtasche für den Gepäckträger, ist schon fast zum Gattungsbegriff geworden – wie das Tempo-Taschentuch“, sagt Esslinger.

Ortlieb klagt gegen Amazon

Die hohe Beliebtheit und Markenbekanntheit ist für Ortlieb fast zum Bumerang geworden: Denn die Plattform Amazon bemächtigte sich des guten Namens und buchte bei Google ungefragt unter „Ortlieb Fahrradtaschen“ Werbung – um dann Suchende auf Trefferlisten mit ganz anderen Taschen umzulenken. Offensichtlich, dass Ortlieb damit nicht einverstanden war – das Unternehmen reichte Klage ein.

„Wir schließen Amazon und andere allgemeine Plattformen ja ganz bewusst als Vertriebskanal aus, denn wir wollen selektiv mit dem Fachhandel kooperieren“, erklärt Esslinger. Fünf Jahre dauerte das Verfahren, am Ende entschied 2019 der BGH: Amazons Verhalten täuscht den Verbraucher – und wird untersagt.

Ortlieb und der Kampf um Markenhoheit

In einem zweiten Verfahren gegen Amazon wurde Ortlieb zunächst abgekanzelt – „aber nur wegen eines Verfahrensfehlers“, sagt Esslinger. Hier geht es darum, ob Amazon bei einer gezielten Suche nach Ortlieb auf ein laut Esslinger „Potpourri von fremden Produkten“ verweisen darf oder nicht. „Wir kämpfen um unsere Markenhoheit, besitzen ein Rechtsgutachten, das uns stärkt – also wollen wir es darauf nicht beruhen lassen.“

Am 22. Juli wird das Verfahren nach der Rücküberweisung durch den BGH vor dem OLG München erneut aufgerollt. „Diese Prozesse haben uns einen sechsstelligen Betrag gekostet, aber das ist es wert“, sagt Esslinger. „Wir verkaufen zwar nicht messbar mehr Taschen dadurch, aber wir zeigen so auch unserem Fachhandel: Wir meinen es ernst mit der Partnerschaft.“

Aus Käufern werden Fans

Sollten doch einmal einzelne Ortlieb-Taschen bei Amazon auftauchen, dann sei das „Graumarkt“. Dem autorisierten Fachhandel ist es vertraglich untersagt, die Ware über den E-Commerce-Giganten zu vertreiben – weder direkt noch über Zwischenhändler.

„Wenn für ein Unternehmen After-Sales-Service der USP ist, dann kann eine Plattform wie Amazon kein Vertriebskanal sein“, begründet Esslinger die Abneigung. Ortlieb hat sich etwa über Jahrzehnte mit einem beispiellosen Ersatzteil- und Reparaturservice einen Namen gemacht – so werden aus Käufern Fans. „Wenn jemandem auf der Radtour in der Mongolei ein Teil der Aufhängung bricht, schicken wir das Ersatzteil ins Hotel – das ist unser Anspruch.“

Ortlieb-Taschen: Fast alles ist reparabel

Minilöcher in der Tasche werden routinemäßig in Heilsbronn geflickt: Flicken von innen auf das Loch, einmal mit dem Heißluftfön drüber, verschweißen – fast wie neu. Wenn bei solchen Aktionen 30 Jahre alte Schätzchen auftauchen, die schon Sammlerwert für das kleine Firmenmuseum hätten, bietet man mitunter Austausch gegen Neuware an. Doch viele Kunden winken ab: Unbezahlbare Reiseerinnerungen stecken im Gepäck.

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Martin Esslinger ist selbst über das Reisen zum Beruf gekommen. Rucksacktouren durch Lateinamerika weckten sein Interesse für ein VWL-Studium in Trier und Tübingen mit diesem geografischen Schwerpunkt. Nach einer Abschlussarbeit über das chilenische Finanzsystem blieb er thematisch am Ball und beriet Finanzinstitutionen in Lateinamerika zu Mikrokrediten.

Nachhaltigkeit ist die DNA von Ortlieb

Für den Sportartikler Uhlsport wurde Esslinger Exportmanager für Südamerika, bevor er sich bei Ortlieb bewarb. „Rückblickend fügt sich das und klingt sehr stringent“, sagt Esslinger lachend. „Aber in den Vertrieb wollte ich eigentlich nie.“

Wer Outdoor liebt, dem geht Natur und deren Erhalt über alles. „Nachhaltigkeit steckt in unserer DNA, logo“, sagt Esslinger. Vor allem das Streben nach Langlebigkeit der Produkte trage dem Nachhaltigkeitsgedanken bei Ortlieb Rechnung. Hinzu kommt: „Wir wollen das PVC in unserer Kollektion zunehmend ersetzen, etwa durch recycelbare Kunststoffe.“ Technische Bedingung: Jedes neue beschichtete Gewebe muss weiterhin schweißbar sein, damit die Nähte wasserdicht sind.

Der Radmarkt boomt: Drei-Schicht-Betrieb bei Ortlieb

„Die nächsten Jahre werden spannend“, sagt Esslinger mit Blick auf die Märkte und Konkurrenten, die auf das boomende Segment Fahrrad aufspringen. „Bisher sind wir nachhaltig vor uns hingewachsen, aber im Corona-Jahr konnten wir die Nachfrage kaum bewältigen.“

Über Kurzarbeit musste Ortlieb nicht nachdenken, stattdessen schaltete man in Drei-Schicht-Betrieb hoch, seit März wird sogar samstags gearbeitet. „Das Thema urbane Mobilität kommt mit Riesenschwung“, sagt Esslinger. Büropendler wollen ihre Laptops sicher und chic in fahrradtauglichen Aktentaschen transportieren – es wartet ein Riesenmarkt.

Preis ist das letzte Thema bei Ortlieb

Eine eigentlich perfekte Kundengruppe konnte er allerdings bisher nicht überzeugen: die Lieferdienste. Während klassische Fahrradkuriere ganz häufig mit der Ortlieb Messenger Bag anzutreffen sind, stammen die Warmhaltekisten auf den Rücken der Essens-Lieferanten nicht aus Heilsbronn. „Es wäre schön, diese Branche auszurüsten. Aber da gibt es kein Bewusstsein für Qualität, der Mehrwert wird nicht gesehen, alles geht über den Preis“, erklärt Esslinger. „Bei uns wiederum ist Preis das letzte Thema.“ Und sich für ein Geschäft verbiegen, das gibt es bei Ortlieb nicht.

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Mit einer neuen Markenkampagne hält der Taschenspezialist Kurs. Es geht um Rückbesinnung auf das Wesentliche. Unterlegt mit eindrucksvollen Naturbildern, wirbt der Spot mit Moral. Kreieren, nicht konsumieren! Entdecken und nicht bloß Erwartungen erfüllen! Die eindringliche Botschaft mündet geschickt in dem Claim: „Halte trocken, was du liebst.“ Was er persönlich in den Ortlieb-Sack stecken würde? „Meine zwei Jungs“, sagt Esslinger spontan – und muss lachen. „Nee, da fehlt ja die Luft.“ Aber es zeigt, wie er tickt. „Meine Familie ist mein Anker. Sie ist das, was ich safe und trocken halten würde.“

Ortlieb: vom Regenguss ins Unternehmertum

Hartmut Ortlieb gründete sein Unternehmen 1982 als Abiturient in Nürnberg. Der Geistesblitz – Satteltaschen aus Lkw-Plane – kam ihm auf einer verregneten Radtour. Zuerst bediente er Kletterfreunde aus Franken mit den handgefertigten Teilen.

Als die örtlichen Radhändler auf die Innovation aufmerksam wurden und die Nähmaschine seiner Mutter nicht mehr reichte, entwickelte der Autodidakt Ortlieb eigene Fertigungsmethoden und die nötigen Maschinen. Ortliebs Mutter gehörte zur Belegschaft der ersten Stunde.

1997 zog man mit 60 Beschäftigten ins 30 Kilometer entfernte Heilsbronn, wo heute 285 Mitarbeiter tätig sind. Neben Taschen für das Fahrrad liefert Ortlieb Ausrüstung für Trekkingtouren und Expeditionen, Motorradfahrer und Wassersportler, zunehmend aber auch für den Weg ins Büro oder kleine Reisen. Deutschland, Europa und die USA sind die Hauptmärkte.

Konkrete Geschäftszahlen nennt der zurückhaltende Eigentümer Hartmut Ortlieb nicht. Der Umsatz wird auf einen „mittleren zweistelligen Millionenbetrag“ beziffert. Im Corona-Jahr 2020, das dem Fahrrad zu neuer Beliebtheit verhalf, wuchs das Geschäft nach Unternehmensangaben um mehr als die sonst üblichen rund zehn Prozent.

Der Artikel erschien zuerst im Creditreform-Magazin, das wie die absatzwirtschaft in der Handelsblatt Media Group erstellt wird.