Neuromarketing bei Kindern: Laut, farbig, schrill

Was können Unternehmen beim Neuromarketing für Kinder beachten? Ein Kurztrip Richtung limbisches System mit Zwischenstopps wie Pester Power, mimetisches Begehren und Facial Recognition.
Kind steht vor einem Regal mit Spielwaren
Wie müssen Marken ihre Produkte gestalten, damit sie bei Kindern Konsumwünsche auslösen? (© Plainpicture)

Für eine Recherche zum Thema Gen Alpha in ein 20 Jahre altes Buch zu schauen, liegt nicht unbedingt auf der Hand. Doch der Griff ins Regal hat sich gelohnt. „Limbic Success“, steht auf dem Cover aus dem Jahr 2002. Autor ist Hans-Georg Häusel, einer der bekanntesten Vordenker des Neuromarketings. Signalsatz auf Seite 10: „Das limbische System ist das wahre Machtzentrum in unserem Kopf.“

Das limbische System umfasst die Gehirnareale, die für den unbewussten Teil unserer Entscheidungen verantwortlich sind. Häusel hat sich in den vergangenen Jahrzehnten wie kein Zweiter damit beschäftigt, wann und wie wir Kauf- und Markenentscheidungen treffen. Seine Erkenntnis, die in der Branche auch schon zu kontroversen Diskussionen geführt hat: „Offensichtlich nicht so, wie wir und der Kunde den Entscheidungsablauf im Kopf erleben. Über 70 bis 80 Prozent der Entscheidungen fallen unbewusst.“ Kurzum: Rationale und bewusste Konsument*innen gibt es nicht. Unter Kindern schon gar nicht.

Von Embryo bis Pubertät

Ab welchem Zeitpunkt sich bei Kindern Produkt- und Markenneigungen entwickeln, lässt sich weniger eindeutig beantworten. Gesa Lischka weist auf einen sogar noch vor der Geburt stattfindenden Aspekt hin. „Embryonen drehen sich schon im Mutterleib Lichtquellen zu, die von der Anordnung her aussehen wie ein Gesicht, sprich: zwei Punkte oben und ein Punkt unten haben“, sagt die Neuromarketing-Expertin von der Agentur Kochstrasse. Andersherum ergebe sich die Form eines Dreiecks, das wie Studien gezeigt hätten, in der Regel keine weitere Beachtung erführe.

Quasi per Geburt im Gehirn vorhanden ist der ständige Wunsch nach etwas Neuem. Laut Friederike Fabritius sind zudem eine „gewisse Faszination für Actionfiguren“ und „Storytelling wie früher am Lagerfeuer“ in uns angelegt. Ebenfalls hätten Kinder bereits ab dem ersten Lebenstag Präferenzen für „klassische Reize, zum Beispiel, wie wir auf Farben und Formen reagieren“, sagt die Neurowissenschaftlerin, die eigentlich auf Leadership-Beratung spezialisiert ist. Gleichzeitig ist die Autorin Mutter von fünf Kindern im Alter von vier bis neun Jahren, die somit allesamt zur Gen Alpha zählen.

Kinder begännen schließlich mit vier bis fünf Jahren „nach und nach, ihre Wünsche auch gezielter im Konsumbereich zu äußern“, sagt Diplom-Psychologe Häusel.

Während der Pubertät kommt es jedoch zu einem Bruch. „In der Pubertät wird das Gehirn von Kindern noch einmal komplett umgebaut, alle Nervenbahnen werden quasi neu verkabelt“, sagt Fabritius. An diesem Zeitpunkt sollten Marken umdenken. Erst mit circa 18 bis 22 Jahren reift das Gehirn vollständig aus und das Stimulanzsystem der Neugier nimmt etwas ab.

Vorsicht, Pester Power!

Ein Begriff, der im Zusammenhang mit Marketing für Kinderprodukte immer wieder fällt, ist die sogenannte Pester Power. Oder auch „Quengelkraft“, wie das Phänomen, mit dem Kinder ihre Eltern zu Kaufentscheidungen bringen, auf Deutsch genannt wird. Wie müssen Marken ihre Produkte gestalten, damit sie bei Kindern Konsumwünsche auslösen?

Bei der Verpackung gibt es laut Häusel klare Codes und einfache Regeln. Er sagt: „Alles, was Kinder ansprechen soll, muss laut, farbig, auffällig und schrill sein. Die visuellen Reize müssen dominieren und in der Wahrnehmung von Erwachsenen als fast schön störend und nicht mehr schön empfunden werden.“

„Viele Marken unterschätzen, wie groß der Einfluss bei Lebensmittelverpackungen auf den Geschmack ist“, fügt Neuromarketing-Expertin Lischka an. Hirnforschungen hätten gezeigt, dass entsprechende Areale aktiviert werden und Menschen „bei unterschiedlichen Verpackungen tatsächlich einen anderen Geschmack empfinden“. Dazu passt eine Studie von Bernd Weber vom Center for Economics and Neuroscience der Universität Bonn aus dem Jahr 2015. Deren stark verkürztes Ergebnis: Ansprechende Verpackungen lassen identische Produkte besser schmecken.

Neben der Verpackung von Lebensmitteln ist laut Häusel auch der Reiz des Süßen für Kinder „von ungeheurer Stärke“, wodurch sogar Gestaltungsmerkmale in den Hintergrund treten würden. „Vor allem dann, wenn es sich um habitualisierte und gelernte Produkte handelt, die im Haushalt oft verfügbar sind. Da geht’s im Supermarkt nur noch um die Textur: Will ich lieber eine weiche Schokolade oder doch eher eine knackige Nuss zum Beißen?“

Das unter anderem durch Verpackungen und Werbung erzeugte Bild einer Marke entsteht schließlich im Kopf jedes Kindes auf eigene Art und Weise. Dabei sei laut Lischka, wie bei Erwachsenen auch, der Mere-Exposure-Effekt nachweisbar. Demnach wird eine zuvor neutral beurteilte Sache allein durch Wiederholung von Kindern hinterher positiver bewertet. Situationsbedingt seien Kinder darüber hinaus in hohem Maße anfällig für die „Fear of missing out“, kurz: FOMO, sowie Scarcity-Effekte, sprich: die Angst, etwas zu verpassen, beziehungsweise Reize, die durch künstliche Verknappung eines Produkts geschürt werden.

Mimetisches Begehren in der Peergroup

Konsumentscheidungen im kindlichen Gehirn werden ebenfalls maßgeblich von Eltern sowie vom sozialen Umfeld beeinflusst, der sogenannten Peergroup.

„Bis zum Alter von vier bis fünf Jahren haben Eltern großen Einfluss, aber je mehr sich der soziale Kontext des Kindes verändert, desto mehr schwindet auch die Bedeutung der Eltern für das Konsumverhalten“, sagt Häusel. Die Peergroup bekäme nun erheblichen Einfluss. Ab dem achten bis zehnten Lebensjahr habe die Peergroup weitgehend das Sagen. Der Neuromarketing-Experte begründet das mit dem Abnabelungsprozess von zu Hause. Er sagt: „Der Wunsch nach Autonomie wird mit zunehmendem Alter immer größer. Trotz der Abnabelung bleibt bei Kindern das Bedürfnis nach Sicherheit, der ihnen von ihrer Peergroup erfüllt wird.“

Die Peergroup schüre zudem Konsumgelüste, das sogenannte mimetische Begehren, das laut Häusel bei Kindern „enorm stark ausgeprägt“ sei. Dabei wird eine Produktentscheidung nicht durch das Objekt bestimmt, sondern durch andere Personen. Simpel ausgedrückt: Wenn ein Kind in der Kita oder auf dem Spielplatz ein anderes Kind mit einer neongrünen Schaufel sieht, dann will es die auch. Und zwar am liebsten: sofort.

„Erhebliche Geschlechtsunterschiede

Laut Häusel gibt es überdies „erhebliche Geschlechtsunterschiede im Gehirn“, die wiederum starke Auswirkungen auf Konsumentscheidungen von Kindern hätten. „Das ist eine heiße Diskussion, aber lassen Sie sich nicht verwirren“, schickt er einem Beispiel voraus: „Wenn Sie in den Zoo gehen und einem männlichen und einem weiblichen Äffchen eine Puppe und ein Feuerwehrauto vorlegen, dann ist die Sache nach einer Minute klar: Das männliche Äffchen hat das Feuerwehrauto und das weibliche Äffchen hat die Puppe.“

Diese Tatsache sei nicht zu verwechseln mit dem Fakt, dass Geschlechtsunterschiede zum Beispiel durch Farb-Codierungen wie rosa und blau kulturell verstärkt würden. Diese seien nicht von Beginn an im Gehirn angelegt, vielmehr würden sich Biologie und Kultur beim Thema Geschlecht „in hohem Maße verschränken“.

Überhaupt hat der kulturelle Kontext nebst aller neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zum Kindergehirn einen erheblichen Einfluss auf das Konsumverhalten. So ist für die Gen Alpha beispielsweise Diversität ebenso selbstverständlich wie der Klimawandel oder der Umgang mit digitalen Medien.

Insbesondere aufgrund der Digitalisierung glaubt Agenturchefin Lischka, dass sich bei der Gen Alpha im Neuromarketing neben den klassischen Methoden (siehe Infokasten unten) etwas verschieben wird. „Mit der Zeit werden wir im Digitalen viel mehr Möglichkeiten wie beispielsweise ,Facial Recognition‘ haben. Dadurch können auch emotionale Komponenten aus dem Entscheidungsverhalten herausgelesen und der Kontext von digitalem Konsumverhalten beurteilt werden“, sagt die dreifache Familienmutter.

Marken können perspektivisch über die Gen Alpha also nicht nur erfahren, was diese heranwachsende Zielgruppe klickt, sondern auch, warum sie es tut.


Infobox: IAT, FMRT, Facial Coding

Bereits heute gibt es diverse wissenschaftliche und medizintechnische Methoden, die auch für Marketingzwecke angewendet werden. Gesa Lischka, Geschäftsführerin der Agentur Kochstrasse, nennt exemplarisch die folgenden drei:

  • Implicite Association Tests (IATs): Mit ihnen lässt sich ganz einfach am Rechner herausfinden, wie stark und mit welchen Assoziationen eine Marke in den Gehirnen zum Beispiel von Kindern etabliert ist. IATs gebe es laut Lischka im Prinzip schon seit den Fünfzigerjahren, aber das Wissen, was man damit im Marketing machen kann, sei „noch lange nicht flächendeckend angekommen“.
  • FMRT-Untersuchungen: FMRTs haben laut Lischka sogar gezeigt, dass das Geschlecht auf der Gehirnebene bei Kaufentscheidungen den größten Unterschied macht. Allerdings wendet sie auch kritisch ein, dass sie es ethisch für nicht vertretbar halte, Kinder für Marketingzwecke in ein FMRT zu stecken. „Wir jedenfalls würden das niemals machen“, sagt Lischka.
  • Facial Coding: Es wird mit der Kamera ein Netz über das Gesicht gelegt, sodass Mikro-Emotionen aus dem Gesicht ausgelesen werden können. „Wir nutzen so etwas momentan zum Beispiel, um Bewertungen von TV-Spots zu analysieren“, sagt Lischka. Theoretisch sei der Einsatz auch bei Kindern möglich, um Aussagen zum Entscheidungsverhalten daraus abzuleiten.

Dieser Artikel erschien zuerst in der April-Printausgabe der absatzwirtschaft.

(he, Jahrgang 1987) – Waschechter Insulaner, seit 2007 Wahl-Hamburger. Studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften und pendelte zehn Jahre als Redakteur zwischen Formel-1-Rennstrecke und Vierschanzentournee. Passion: Sportbusiness. Mit nachhaltiger Leidenschaft rund um die Kreislaufwirtschaft und ohne Scheuklappen: Print, live, digital.