Kindermarketing: Mehr tun für weniger Dopamin

Die Neurowissenschaftlerin Friederike Fabritius ist eigentlich auf Leadership-Beratung spezialisiert. Gleichzeitig ist sie Mutter von fünf Kindern im Alter von vier bis neun Jahren, die somit allesamt zur Gen Alpha zählen. Im Interview prangert sie eine zu wenig kindgerechte Gesellschaft an und zeigt auf, was Marken für eine Besserung leisten können.
Friederike Fabritius: „Überflüssiger Konsum ist alles andere als gut für das Dopaminsystem von Kindern.“ (© Jaqueline Eustachi)

Frau Fabritius, treffen Kinder Entscheidungen anders als Erwachsene?

Kinder sind in erster Linie emotional und die Kontrollmechanismen dieser Emotionen sind in ihren Gehirnen weniger ausgereift. Deswegen sind sie so oft so lustig und ungehemmt. Die Entscheidungsprozesse sind aus neurowissenschaftlicher Sicht aber gleich, auch wenn Erwachsene das oft nicht so gerne zugeben. Wir entscheiden auch emotional, versuchen unsere Entscheidungen anders als Kinder aber hinterher rational zu begründen.

Ab welchem Lebensalter entwickeln Kinder ihr Entscheidungsverhalten?

Quasi per Geburt im Gehirn vorhanden ist der ständige Wunsch nach etwas Neuem. Zudem ist auch eine gewisse Faszination für Actionfiguren und Storytelling wie früher am Lagerfeuer in uns angelegt. Ebenfalls haben Kinder bereits ab dem ersten Lebenstag Präferenzen für klassische Reize, zum Beispiel, wie wir auf Farben und Formen reagieren. Wenn Marken Verpackungen beispielsweise mit Comic-Superhelden oder starken Farben gestalten würden, würden selbst kleine Babys darauf reagieren. So verrückt es klingt, könnten theoretisch also auch schon Säuglinge Zielgruppe im Marketing sein.

Das klingt beängstigend bis unanständig.

Ich sehe das auch sehr kritisch. Meine Position ist auch weniger die, wie man noch mehr Produkte an Babys und Kleinkinder vermarkten kann, sondern eher: Was kann man dagegen tun?

Haben Sie eine Antwort?

Ähnlich wie bei anderen gesellschaftlichen Themen wie Geschlechtergerechtigkeit oder Rassismus haben Unternehmen auch beim Kindermarketing die große Chance, Verantwortung zu übernehmen. Marken könnten zum Trendsetter bei Kindern werden, wenn sie Produkte erschaffen, die wirklich gut für sie sind. Es wäre ja beispielsweise möglich, gesundes Essen so zu verpacken, dass Kinder es lieben. Jetzt nicht unbedingt mit umweltschädlichem Plastikspielzeug wie es an Kinderzeitschriften klebt. Aber was spricht denn dagegen, lustige Cartoons auf Obst- und Gemüse-Verpackungen zu platzieren.

Und das würde die Pester Power, oder auch: Quengelkraft, von Kindern etwa im Supermarktregal triggern?

Warum nicht? Es gibt sogar Beispiele für „Reverse Pester Power“: Dabei wurde Kindern in speziellen Programmen spielerisch und mit Freude vermittelt, wie wichtig gesunde Ernährung ist. In Studien wurde dann gezeigt, dass Kinder sogar das Konsumverhalten von Eltern positiv beeinflussen können.

Wie nehmen Sie die Kindermarketing-Aktivitäten in Deutschland als Mutter von fünf Kindern aus der Gen Alpha wahr?

Ich sehe das jetzt nicht so fatalistisch, dass alles verloren und schlecht wäre. Vielmehr sehe ich die Chancen: Die Firmen, die es jetzt schaffen, Marketing im Sinne des Kindeswohls positiv zu besetzen und innovativ voranzutreiben, werden künftig einen großen Vertrauensbonus bei den Eltern haben. Momentan sind die Konsument*innen noch im Tiefschlaf und viele Eltern wissen gar nicht, wie viel Zucker beispielsweise in Frühstücksprodukten für Kinder ist. Aber wenn jetzt mal eine Marke freiwillig Zucker reduzieren und obendrein auch noch die entsprechende Verpackung attraktiv gestalten würde, dann würden doch alle profitieren.

Marken sind nur die eine Seite der Medaille. Wie können Eltern den Konsum ihrer Kinder steuern?

Wenn Eltern beim Konsum gute und glaubwürdige Vorbilder sind, dann ist das schon mehr als die halbe Miete. Aber es kommt auch auf die familiäre Konstellation an. Ich sehe es beispielsweise als Vorteil, dass ich fünf Kinder habe. Meine Kinder haben daher nicht so viel „Peer Pressure“ von anderen Kindern, sodass sie relativ autark Konsum-Entscheidungen treffen können. Einzelkinder sind dagegen oft viel abhängiger vom Verhalten ihre*r Freund*innen. Ich lasse meine Kinder zudem auch nicht fernsehen, sie haben weder Handys noch gebe ich ihnen die Möglichkeit, Social Media zu konsumieren.

Spricht da mehr die überzeugte Mutter oder eher die Neurowissenschaftlerin?

Sicher eine Mischung aus beidem. Kinder werden einerseits durch Medienkonsum mit Produktbotschaften geradezu überschüttet. Ich verfolge zudem eher das Modell, dass meine Kinder sich mehr selbst erarbeiten müssen, damit ihr Dopaminsystem nicht verdorben wird.

Welche Bedeutung hat das Dopaminsystem beim Konsum von Kindern?

Dopamin ist der Neurotransmitter für das Belohnungssystem. Wenn Kinder immer alles bekommen, dann wird ihr Dopaminsystem so überladen, dass sie sich später im Leben gar nicht mehr richtig freuen können.

Wir leben allerdings in einer Gesellschaft des Überflusses, in der viele Eltern und Verwandte nicht viel von möglicherweise überladenen Dopaminsystemen bei Kindern wissen (wollen) …

… was auch aus neurowissenschaftlicher Sicht ziemlich kritisch ist.Die Ergebnisse einer jüngsten Unicef-Studie sind absolut erschreckend: Kindern geht es heutzutage oft nicht gut. Es gibt leider eine enorme Zunahme an Depressionen und Suiziden bei Kindern. Das Hauptproblem ist, dass sie vereinsamt sind. Und hier geht es um Kinder aus entwickelten Gesellschaften, die eigentlich alles haben.

Warum ist das so?

Ich glaube, das hängt unter anderem damit zusammen, dass Eltern ihren Kindern – selbst wenn es gut gemeint ist – zu viel schenken. Denn zum einen haben Eltern häufig das Problem, dass sie erschöpft sind, weil ihr Leben stressig ist. Das hat man vor allem während Corona gemerkt. Und der einfachste Babysitter für Eltern ist nun mal der Fernseher, das Tablet oder das Handy. Ich sag das auch gar nicht mit erhobenem Zeigefinger. Niemand ist da perfekt, das gilt genauso auch für mich. Oft sind auch Schuldgefühle der Eltern, ihren Kindern in irgendeiner Weise nicht gerecht geworden zu sein, verantwortlich für einen Überfluss beispielsweise von Geschenken. Wir müssen deshalb als Gesellschaft im Ganzen umdenken.

Wie kann das aussehen?

Wir brauchen nicht nur eine kindgerechtere Gesellschaft, sondern auch ein elterngerechteres Berufsleben, in dem Familie und Beruf viel besser vereinbar sind, als es derzeit der Fall ist.

Wie können Marken diesen Wandel mitgestalten?

Marken und ihre Produkte könnten hier eine elementare Rolle einnehmen, wenn sie es denn wollten. Sie müssen dafür den Eltern vermitteln, dass der überflüssige Konsum alles andere als gut für das Dopaminsystem ihrer Kinder ist. Denn so ließen sich Qualitätsversprechen über die Konsum- und Wegwerfgesellschaft stellen. Nur dann kommen wir aus der Spirale heraus.

Quelle: Kinder Medien Monitor 2021

Friederike Fabritius ist Neurowissenschaftlerin, Autorin und Leadership-Expertin. Als Alumna der Management Beratung McKinsey & Company kennt sie die Arbeitsrealität der Führungskräfte und Vorstände aus eigener Erfahrung. Fabritius schlägt die Brücke zwischen Hirnforschung und Management und arbeitet für das Top-Management internationaler Marken wie Bayer, Siemens und Trivago.

(he, Jahrgang 1987) – Waschechter Insulaner, seit 2007 Wahl-Hamburger. Studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften und pendelte zehn Jahre als Redakteur zwischen Formel-1-Rennstrecke und Vierschanzentournee. Passion: Sportbusiness. Mit nachhaltiger Leidenschaft rund um die Kreislaufwirtschaft und ohne Scheuklappen: Print, live, digital.