Nerds im Fokus: „Ein wahres Targeting-Wonderland!“

Jeder kennt Superman und die Meisten haben auch schon etwas vom Marvel-Universum gehört. Dennoch wurde die Fan-Welt, sogenannte Nerds, hinter den Superhelden, Monstern und Comic-Figuren im Marketing bisher wenig thematisiert. Jung-von-Matt-Stratege Toan Nguyen ist "Nerd-by-Nature". Im Interview beschreibt der selbsternannte "Kulturninja", worauf Marken bei dieser Zielgruppe achten sollten.
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"Star Wars"-Sneaker von Adidas: "Die Science-Fiction-Community ist tendenziell ein bisschen schwerer zu begeistern und auch kritischer gegenüber Kommerz." (© Adidas)

Herr Nguyen, vorsicht landläufiges Vorurteil gleich in der ersten Frage: Mit Nerds werden oft Menschen assoziiert, die dem Alltag entfliehen und Außenstehenden gegenüber eher verschlossen sind. Ist das so?

TOAN NGUYEN: Die Ergebnisse aus unserer jüngsten Studie „Wie nerdig ist Deutschland?“ haben gezeigt, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Nerds sind keine sozial isolierten Einsiedler – das ist der größte Irrglaube der Welt.

Lassen Sie uns tiefer in die Zielgruppe reingehen. Sie haben in Ihrer Studie sechs unterschiedliche Subkulturen untersucht: Esports, Gaming, Kawaii, Manga & Anime, Science Fiction & Fantasy sowie Superhelden. Wie unterscheiden sich die einzelnen Gruppierungen voneinander?

Es gibt durchaus einige Mindset-Unterschiede: Die Science-Fiction- und in Teilen auch Fantasy-Leute sind so etwas wie die Feuilletons der Fandom- und Geek-Kultur, deren intellektueller Anspruch ist meist sehr hoch. Die Science-Fiction-Community ist tendenziell ein bisschen schwerer zu begeistern und auch kritischer gegenüber Kommerz. Es gehört zum Beispiel zum guten Ton, erstmal alle neuen Filme nicht so gut zu finden. Dazu passt, dass es auch keinen Film aus der Star-Wars-Trilogie gibt, der alle Fan-Gemüter gleichermaßen happy macht. Diese kritische Neigung fängt schon innerhalb der Community an, wo es einen lebhaften Diskurs über die Definition der eigenen Subkultur gibt. Aber abgesehen von diesen speziellen Eigenheiten sind die von uns untersuchten sechs Subkulturen untereinander in semi-permeablen Strukturen sehr stark miteinander verwoben.

Was bedeutet das genau?

Das heißt, dass es eine gewisse Durchlässigkeit innerhalb der Communities gibt. Salopp gesagt: Wer Science-Fiction mag, mag auch ein bisschen Fantasy. Und wer Fantasy gut findet, steht nicht selten auch auf Superhelden. Die ursprüngliche Intention für unsere Studie war die Suche nach der einen Superkultur, sprich: Wenn wir eine Regressionslinie zeichnen würden – welche Kultur wäre diejenige mit den meisten Überschneidungen hinsichtlich aller Subkulturen.

Welche Kultur ist demnach die „Superkultur“?

Gaming. Die Zielgruppe hat den höchsten Korrelationsfaktor mit allen anderen Subkulturen, im Schnitt um die 50 Prozent. Gaming hat sozusagen den Luxus, sich an Themen und Figuren aus fast allen anderen Genres bedienen zu können. Gaming wird damit zum Aggregator, Katalysator und Amplifizierer der Themen. Darüber hinaus ist von Superman bis zum Videospiel „League of Legends“ der Einsatz von Superkräften die größte Gemeinsamkeit. Alle von uns untersuchten Kulturen haben etwas Übermenschliches und Fantasievolles an sich, es geht um Eskapismus.

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Wie lassen sich die Überlappungen der einzelnen Subkulturen erklären?

Erklärungsansätze dafür kann man zum Beispiel in wissenschaftlichen Papieren der Havard-Datenbank nachlesen. Darin heißt es etwa, dass die Subkulturen in den Sechzigerjahren noch so klein waren, dass sie sich keine eigenen Messen und Conventions leisten konnten. Folglich sind vereinfacht ausgedrückt die Science-Fiction-Fans zur Fantasy-Community gegangen und haben gefragt, ob sie zeitgleich dieselbe Halle in der Innenstadt anmieten können, um Kosten zu sparen. Später kamen noch die Comic-Interessierten dazu. Und so sind die Conventions gewissermaßen interkulturell miteinander verschmolzen. Das hat sich bis heute nicht verändert. Darüber hinaus zieht sich ein Underdog-Motiv durch fast alle Subkulturen und wird so zum gemeinsamen Nenner.

Wie sieht dieses Underdog-Motiv aus?

Mit Ausnahme von ganz wenigen Superhelden wirkt das Underdog-Motiv der einzelnen Charaktere in etwa so: Ich bin klein und muss hart arbeiten, um andere zu überzeugen. Und das ist etwas, was Jugendliche begeistert. Warum greift das? Weil Jugendliche selbst verunsichert sind und noch nicht wissen, wo ihr Platz in der Welt ist. Sie hoffen, mit viel Arbeit oder Symbolkraft wie neuen Klamotten jemand zu sein. Genau an diesem Punkt gibt es übrigens leider allzu oft den Wahrnehmungsfehler, dass Subkulturen wie Fantasy & Co. als Kinderthemen abgestempelt werden. Es sind aber jugendliche Themen.

Es gibt zudem viele Erwachsene, die zu den nerdigen Subkulturen zählen.

Die initial begeisterten und emotional abgeholten Jugendlichen bleiben langfristig bei der Stange, nachdem sie diese schwierige Phase durchschritten haben. Der Entwicklungsprozess verläuft ganz pauschal oftmals in etwa so: Im Alter von circa 13 bis 19 sind sie Feuer und Flamme für die subkulturellen Themenwelten. Dann gehen sie oft studieren, weil sie sehr gebildet sind. Und dann verschwinden die Nerd-Themen plötzlich. Denn natürlich stellst du dich durch die Stigmatisierung nicht auf eine Erstsemesterparty und erzählst, dass du Comics sammelst und in deiner Freizeit regelmäßig Videospiele spielst. Aber wenn bei einem gleichgesinnten Gegenüber einmal klar wird, dass man ein Nerd, Geek, Fanboy oder was auch immer ist, brechen alle Dämme und Themen werden bis in jegliche Untiefen ausdiskutiert.

Müssen Marken, die sich für eine Nerd-Zielgruppe interessieren, ebenfalls Underdogs sein?

Eine Marke muss dafür auf keinen Fall selbst ein Underdog sein, aber ihre Zielgruppe muss mit Underdogs sympathisieren können. Andersherum ist es sogar sinnvoll, wenn eine Marke eine gewisse Power hat und dadurch werthaltige Produktionen und Kommunikationsmaßnahmen mit klaren Stories und Liebe zum Detail kreieren kann für Communities, die sonst kaum Beachtung bekommen.

Worauf sollten Marken besonders achten, wenn sie in der Nerd-Welt ernsthaft wahrgenommen werden wollen?

Marken benötigen viel Empathie und Feingefühl für die verschiedenen Subkulturen. Sprache, Referenzen, Symbole und Plattformen sind die Schlüssel zum Markenerfolg in der Welt rund um Fandom, Nerd- und Popkultur. Zudem sollten Marken nicht nur, sondern müssen digitale Kommunikation als elementar empfinden. Ich würde den wenigsten Marken „Above the line“-Maßnahmen empfehlen. Trotz der mit Marktforschung belegten gigantischen Sympathie beispielsweise für „Super Mario“ würde ich davon absehen, den Nintendo-Charakter als Testimonial in einem TV-Spot zu nutzen. Derartige Assets entfalten erst in den richtigen Umfeldern ihre ganze Kraft.

Was sind die richtigen Kanäle für Kommunikationsmaßnahmen mit „Super Mario“ & Co.?

Klar ist, dass eine Blue-Chip-Marke mit einem Exklusivrecht eines Filmstudios ihren 30-Sekünder auch vor einem entsprechenden neuen Film im Kino laufen lassen würde. Aber es geht abseits davon ganz besonders eben auch darum, dort zu sein, wo die Zielgruppe ist. Bei Gaming und Esports ist das vornehmlich Twitch. Wer etwas ironischer unterwegs ist, für den ist Tiktok der richtige Kanal. Auch Twitter oder Social-News-Aggregatoren wie Reddit können bei den einzelnen Communities und Zielgruppen gut passen. Genauso wie die als Ausnahme bei Facebook immer noch ganz gut funktionierenden Fangruppen oder aber auch Science-Fiction-Podcasts. Die von den Anhängern bevorzugten digitalen Kanäle machen die Nerd-Szene zu einem wahren Targeting-Wonderland!

Inwiefern?

Bei Properties von „Mortal Kombat“ bis „Dragonball“ lässt sich viel besser ableiten, welche Art von Kommunikation jemand mag, als das zum Beispiel bei einem Fan eines x-beliebigen Fußballbundesligisten möglich ist. Es ist gleichzeitig total wichtig, neben programmatischer Werbung und Targeting auch nuanciert kontextuell an die Maßnahmen heranzugehen. Dafür brauchen Marken neben Mut und Verständnis für Branded Entertainment wie schon gesagt auch gute Production Values und digitales Budget. Dafür müssen noch nicht einmal zwingend neue Geldtöpfe her.

Sondern?

In meiner Wahrnehmung sollten Marken ihre bestehende Budgetverteilung noch viel kritischer hinterfragen. Es gibt enorme Einsparpotenziale bei etlichen wahllosen Media Buys und schlecht ausgesteuerten Media-Buchungen im Internet. Auch Sportsponsorings, die keine messbaren Ziele verfolgen, finde ich äußerst kritisch – obwohl ich diese Kommunikationsdisziplin allein schon aus meiner Vergangenheit heraus total wichtig und relevant finde. Die erste Budget-Umschichtungsmöglichkeit sehe ich aber bei Testimonials.

Warum?

Weil sich viele Testimonials etwa aus der Film- und Fernsehbranche schlicht und ergreifend über die Jahre abgenutzt haben. Ich will Matthias Schweighöfer, Til Schweiger oder Palina Rojinksy einfach nicht mehr in Werbungen sehen. Bei diversen Influencern ist das mittlerweile schon genauso. Wie soll man denn noch wissen, wer für was wirbt, wenn manche Promis gefühlt für alles werben? Ein etwas anderes Problem gibt es oft bei Testimonials aus dem Sport. Bei aller Liebe: Profifußballer können vieles, aber sie sind meistens alles andere als medientaugliche Schauspieler für einen Werbespot. Die können sich kaum Skripte merken und wirken oft auch nicht authentisch dabei. Das ist oft einfach nur cringy (englisches Internet-Slangwort, dass sinngemäß mit „zum Fremdschämen“ übersetzt werden kann, Anm. d. Red.).

Toan Nguyen, Geschäftsführer Jung von Matt/Nerd und selbsternannter „Kulturninja“

Geben Sie uns zum Abschluss bitte noch eine Idee, wie man Superhelden exemplarisch überhaupt in eine Kommunikationsmaßnahme einbauen könnte.

Ein Beispiel aus einer Skript-Idee für ein Kurzvideo: Superman fliegt hoch, guckt sich seine Stadt an und fliegt zurück auf seine Farm. Batman sitzt im Batmobil, fährt in seine Bat-Cave und zieht seinen Anzug aus. Aquaman springt wieder zurück ins Wasser, Wonder Woman reitet davon und Harley Quinn fällt mit einem Eisbecher in der Hand in einen Sessel. Schnitt. Dann folgen Szenen aus der realen Welt: Tick, tick, tick – die Lichter im Supermarkt gehen nacheinander an, Lkw-Fahrer verladen Waren, #Schichtwechsel. Diese Idee für eine Supermarktkette, die das Thema Helden im Alltag transportiert hätte, stammt vom Beginn der Corona-Phase und sollte rein aus bestehendem Archivmaterial zusammengeschnitten werden.

Die Idee wurde aber offenbar nie umgesetzt …

Die Umsetzung scheiterte letztlich vor allem daran, dass die Lizenzfreigaben in den USA leider zu lange gedauert hätten. Bei diesem Konzept war das Timing entscheidend, es gab ein Drei- bis Vier-Tage-Fenster, danach wäre das Momentum weggewesen.


Vita: Toan Nguyen

Toan Nguyen ist Gründer und Geschäftsführer von Jung von Matt/Nerd. Mit der Agentur-Tochter will der selbsternannte „Nerd-by-Nature, Stratege und Kulturninja“ künftig mit Videospiel-Publishern, Comic-Verlagen, Filmstudios, Künstlern und Streamern zusammenarbeiten, um für Kunden aus der werbetreibenden Industrie individuelle Assets-, Rechte- und Lizenzportfolios sowie Aktivierungsstrategien zu entwickeln. Nguyen arbeitet bereits seit 2009 in unterschiedlichen Funktionen bei Jung von Matt in Hamburg. Vor der Gründung von Jung von Matt/Nerd war der 34-Jährige zuletzt seit Ende 2016 als Executive Strategy Director und Partner von Jung von Matt/Sports tätig.


Einen ausführlichen Artikel über die Zielgruppe der Nerds lesen Sie in der aktuellen Print-Ausgabe der absatzwirtschaft, die Sie hier bestellen können.

(he, Jahrgang 1987) – Waschechter Insulaner, seit 2007 Wahl-Hamburger. Studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften und pendelte zehn Jahre als Redakteur zwischen Formel-1-Rennstrecke und Vierschanzentournee. Passion: Sportbusiness. Mit nachhaltiger Leidenschaft rund um die Kreislaufwirtschaft und ohne Scheuklappen: Print, live, digital.