Das Gespräch führte Irmtrud Munkelt
absatzwirtschaft: Herr Prof. Hallier, Sie blicken in diesen Tagen auf vier Jahrzehnte Handelserfahrung zurück. Sie selbst haben viele Dinge angeschoben, wie würden Sie die Entwicklung in dieser Zeit beschreiben? Lässt sich das überhaupt in wenigen Sätzen formulieren? Vielleicht versuchen Sie es…
Dr. Bernd Hallier: In den letzten 50 Jahren hat sich die Handelswelt total verändert: In den 50er und 60er Jahren stand noch die „Versorgung“ an erster Stelle, es folgte der Wandel vom lokalen Händler (1950) über die Regionalfürsten (1975) zu nationalern und internationalen Playern. Die Zahl der Artikel in einem Lebensmittelgeschäft betrug um 1950 circa 200, heute sind es 20 000, 1950 gab es fast nur saisonale und regionale Artikel, heute haben wir eine ganzjährige Ubiquität. Damit verbunden sind Fragen der internationalen Lebensmittelsicherheit. War 1950 die Handelskompetenz in der Regel lokal begrenzt, kennen sich heute Top-Händler in Bezug auf die eigenen Absatzmöglichkeiten weltweit aus. Die Suche nach „Innovation“ läuft weltweit – und die Kopierphasen sind äußerst kurz.
absatzwirtschaft: Aus einer Studie ihres Hauses geht hervor, dass 67 Prozent der Topmanager des deutschen Handels die allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen positiv bewerten. Für den Einzelhandel vergeben jedoch nur 17 Prozent der Topmanager gute Noten. Was läuft falsch?
Dr. Bernd Hallier: Dazu muss man wissen, dass die befragten Händler dem Handel allgemein nur niedrige Noten geben – die Aussichten für ihr eigenes Unternehmen aber in der Regel positiv beurteilen. Wir folgern daraus, dass die Verdrängung von schwachen Unternehmen fortschreitet. Möglicherweise kommen wir momentan in eine Monopoly-Phase, in der Unternehmen nach der Expansion zwischen 1990 – 2000 nunmehr international wie national Länder und Vertriebsschienen tauschen oder verkaufen, um sich wieder auf das Kerngeschäft oder die Kernregionen zu konzentrieren.
absatzwirtschaft: nicht anders als in der Industrie?
Dr. Bernd Hallier: Vergleichen wir den Handel mit der Industrie, so kann – wie es das Beispiel der Milchprodukte gerade zeigt – die Industrie viel schneller auf eine wachsende Nachfrage im Ausland reagieren. Die Industrie kann ihren Warenstrom nahezu täglich neu ausrichten, während Verträge den Handel bei lokalen oder regionalen Marktveränderungen, noch jahrelang binden. Genauso wie neue Chancen im Ausland erst Grundstücke, Immobilien und Personal verlangen. Die potentiellen Reaktionsgeschwindigkeiten sind doch sehr unterschiedlich.
absatzwirtschaft: Die Bedeutung der IT als strategischer Erfolgsfaktor im Einzelhandel nimmt zu. Der Handel investiert in Self-Checkout und Digital Signage, und plant, die Kunden über LCD- oder Plasma-Screens in den Filialen mit Informationen zu versorgen – das alles klingt sehr technisch. Verbesserte Kassenabwicklung und Info-Screens allein können aber nicht zu einem guten Einkaufserlebnis führen…
Dr. Bernd Hallier: Die IT im Laden steht natürlich im Vordergrund der Berichterstattung in den Medien und wird von uns auch gern im Messebereich so forciert, aber die wahre Revolution steht in der nicht sichtbaren „backstage“. Der Metro Future Store hätte besser „Future Distribution Concept“ heißen sollen: die wirklichen Ersparnisse liegen in der Optimierung der Total Supply Chain durch RFID et cetera. Aber natürlich können Digital Signage, LCD- oder Plasma-Screens auch für die Verkaufsförderung durch Infos oder Animation sorgen; ob der Self-Checkout von allen demographischen Fragmenten 100prozentig begrüßt wird, können Sie natürlich zu Recht bezweifeln – vielleicht hilft ja ein kleiner Konsumentenbonus, ihn durchzusetzen…
absatzwirtschaft: Das Motto ihrer diesjährigen Jahresveranstaltung in Düsseldorf: „Innovation beginnt beim Menschen“ thematisiert die andere Richtung. Ist die Botschaft angenommen? Wie ernsthaft geht der Handel damit um. Stichwort: Mitarbeiter, und, noch wichtiger: Werden die Kunden das spüren?
Dr. Bernd Hallier: Das Motto war natürlich kein status-quo-Report, sondern eine bewusste Provokation. Wenn wir in einem Zeitalter des beständigen Wechsels leben – Firmenübernahmen, Neupositionierung einzelnen Vertriebsschienen, alle Jahre einen neuen Vorstand mit einer neuen Idee – dann müssen wir zu allererst die eigenen Mitarbeiter geistig mitnehmen, um diese als Multiplikatoren gegenüber den Konsumenten einzusetzen. Wenn die eigenen Mitarbeiter die Firmenphilosophie nicht mehr verstehen, können sie diese auch nicht positiv gegenüber den Kunden interpretieren.
absatzwirtschaft: Das hätte eigentlich schon gelernt sein müssen…
Dr. Bernd Hallier: Meine persönliche Sorge ist, dass die Schnell-Lebigkeit/die Aktionitis im täglichen Geschäft den Druck auf die Mitarbeiter so stark anwachsen lässt, dass taktische und strategische Ausrichtungen unterbleiben. Es wird teilweise für eine formale Erfüllung von Zielvorgaben gearbeitet ohne Rücksicht auf die Sinnhaftigkeit. Dies ist ein Ergebnis der Marktkonzentration, der Large Scales of Economics, bei der sich Mitarbeiter – leider – teilweise nur „als kleines Rad im großen Getriebe“ definieren. Der Technokrat gewinnt heute häufig gegenüber dem Schumpeter-Unternehmer.
absatzwirtschaft: 2005 gründeten Sie die European Retail Academy (ERA), der inzwischen 84 Universitäten aus 34 Ländern angehören. Ihr Hauptziel ist der Austausch zwischen Theorie und Praxis. Wie läuft das Projekt an, sind Sie mit dem Verlauf zufrieden?
Dr. Bernd Hallier: Die Idee entstand 2005 auf der EuroShop als ich feststellte, dass es viele Handelslehrstühle gibt, die noch nie auf unserer weltweit größten Investitionsgütermesse des Handels waren. Taktisch-strategisch stellten wir den Bologna-Prozess in den Vordergrund, da in 2010 jeder Student in Europa unter Anerkennung seiner erworbenen „Scheine“ den Studienplatz wechseln können sollte. Um dieses Ziel zu erreichen, muss man allerdings zuerst einmal wissen, wer-was-wo lehrt und wo man sich bewerben muss. Für die Handelsforschung hilft hierbei die virtuelle www.european-retail-academy.org. Gibt man bei www.google.de „european-retail“ an, so stehen wir seit Monaten auf Platz 1.
absatzwirtschaft: die European Retail Academy wirkt also eher im virtuellen Raum…
Dr. Bernd Hallier: Überhaupt nicht, jährlich trifft sich ein Teil der Professoren zur Jahrestagung, in 2006 war das in Prag anlässlich des CZ Retail Forum, in 2007 in Moskau zur ShopDesigRussia, in 2008 in Düsseldorf zur EuroShop. Daneben gibt es bi- und trilaterale Treffen bei Messeveranstaltungen und internationalen Workshops. Aber auch der Studentenaustausch entwickelt sich zwischen Deutschland, der Tschechei, Russland, China et cetera. Die Ural-Universität Jekaterinburg hat „Kultur und Geschichte des Handels“ ebenso übersetzt wie Kapitel 2 des EuroShop-Buches. Und die chinesische Ausgabe von „Kultur und Geschichte“ übersetzt die Harbin Universität. Um anerkannte internationale Ausbildungsqualität in den Bereichen Logistik und Handel zu bekommen, bedarf es entweder gewaltiger finanzieller Anstrengungen oder aber eines Netzwerkes von befreundeten Instituten. In diesem Sinne stehen wir erst am Anfang unserer Entwicklung – aber wir haben Visionen für einen noch größeren Erfolg!
Prof. Prof. E.h. (RUS) Dr. Bernd Hallier ist Geschäftsführer am EHI Retail Institute in Köln. Das Forschungs-, Bildungs- und Beratungsinstitut für den Handel und seine Partner arbeitet mit rund 50 Mitarbeitern und einem internationalen EHI-Netzwerk von 500 Mitgliedsunternehmen aus Handel, Konsum- und Investitionsgüterindustrie. Neben seinen Tätigkeiten in nationalen und internationalen Gremien, so auch als Beiratsvorsitzender der Fachmesse EuroShop, publiziert Hallier Fachartikel und Bücher, hält weltweit Vorträge zu praxisorientierten Handelsthemen und nimmt Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen wahr.