Dem Kunden auf der Spur?

Selbstverständlich gehört es zu den erfolgskritischen Aufgaben eines Unternehmens, sein Angebot auf die Wünsche und Bedürfnisse seiner Kunden auszurichten. Die theoretischen, konzeptionellen und operativen Schwierigkeiten, die mit der Lösung dieser Aufgabe verbunden sind, dürfen jedoch nicht unterschätzt werden. Und gleichzeitig darf nicht überschätzt werden, wie ernst- und gewissenhaft und mit welcher Konsequenz diese Aufgabe in Unternehmen angegangen wird.

Die Geschichte des Marketing geht einher mit der laufenden Weiterentwicklung der „Marktforschung“. Idealtypisch erfahren Unternehmen so, was der Kunde will. Wie aber sieht es real aus? Dazu eine fiktionale Aufbereitung:

Donnerstag in der letzten Woche des April. Das große Meeting zur Präsentation der Quartalsergebnisse der Marktforschung steht an. Wie immer ist der größte Raum im Vorstandsbereich reserviert. Präsent sind jeweils zwei Vertreterinnen (die Mehrheit der Teilnehmer ist weiblich) aus den Marketingabteilungen aller großen Ländergesellschaften. Insgesamt sind fast 30 Personen anwesend.

Der Marketingchef des Unternehmens eröffnet die Sitzung. Er dankt dafür, dass trotz offensichtlich enger Terminkalender alle eingeladenen Unternehmensbereiche Vertreter (er bleibt bei der maskulinen Ansprache) zur heutigen Quartalspräsentationsrunde entsandt haben. Er kennt die Ergebnisse der Studie noch nicht, ist aber sicher, dass wieder deutlich werden wird, dass die Kunden des Unternehmens auf die von ihm erarbeitete neue Positionierung (er stieß vor sechs Monaten zum Unternehmen) wie schon im letzten Quartal positiv reagiert haben. Das hätten ihm bereits Gespräche mit Kollegen aus zahlreichen Unternehmensbereichen bestätigt.

Während er spricht, betreten noch weitere Kolleginnen und Kollegen den Raum. Sie setzen sich jeweils mit entschuldigendem Achselzucken an einen noch freien Platz. Der Marketingchef nickt jeweils nur beiläufig und in keiner Weise irritiert. Gegen Ende seiner Eröffnungsansprache betritt ein jüngerer Herr den Raum. Der blaue Anzug ist verknittert. Der Kragen des weißen Hemdes offen, keine Krawatte. Über der linken Schulter hängt lässig ein Rucksack. Das Mobiltelefon nimmt er nach hastigen Abschiedsworten vom Ohr, als der Marketingchef ihn anspricht. Dieser wechselt dabei ins Englische, begrüßt den Kollegen fast freundschaftlich mit dessen Vornamen und äußert sein Verständnis für das späte Eintreffen, da sicher wieder einmal der Flugverkehr aus London heraus daran Schuld sei.

Die Sitzung wird ab diesem Zeitpunkt in Englisch weitergeführt. Der Marketingchef übergibt an die Geschäftsführerin des Marktforschungsinstituts. Diese referiert, gestützt auf knapp einhundert Powerpoint-Charts, etwa 80 Minuten. Von Fragen unterbrochen wird sie lediglich vom Marketingchef, der besonders klare Belege für die Attraktivität der neuen Kampagne doch „besonders hervorheben“ möchte.

Im Raum herrscht ansonsten eine Ruhe, die Erinnerungen an frühere Erlebnisse in der Schule wachruft. „Konzentrierte Ruhe“ wäre die falsche Beschreibung. Dazu werden in langsam zunehmender Zahl zu viele bilaterale Gespräche mit Nachbarn geführt. Die Bearbeitung von E-Mails unter dem Tisch nimmt im Verlauf der Präsentation ebenfalls merkbar zu. Das Ausbleiben von Kommentaren lässt nicht auf breite Zustimmung schließen. Denn die Mimik und die Gesten der Anwesenden dokumentieren immer wieder Widerspruch. Die bereitgelegten Schreibblöcke füllen sich nicht mit Anmerkungen oder Kommentaren. Sie füllen sich mit künstlerisch unterschiedlich anspruchsvollen Zeichnungen, Figuren und Karikaturen.

Die Präsentation wird mit zusammenfassenden Thesen auf fünf Seiten beendet. Es ist angesichts der erstickenden Menge an gezeigten Daten und Darstellungen, der Häufung komplexer methodischer Hinweise und der Masse an Fachjargon sicher nicht ganz einfach nachzuvollziehen, dass sie die Ergebnisse der vorangegangenen Charts in deren relevanten Teilen tatsächlich wiedergeben. Sie werden aber auch gar nicht weiter diskutiert. Vielleicht auch, weil die Zeit dafür zu knapp zu sein scheint. Mehrere Kolleginnen haben den Raum während der letzten Minuten der Präsentation, dieses Mal mit achselzuckendem Verweis auf die Armbanduhr, bereits verlassen.

Mögliche Konsequenzen der präsentierten Daten oder Thesen werden nicht diskutiert. Alle Rückfragen beziehen sich auf eher technische Details. Wann ist die Präsentation auf der Marketing-Plattform zugänglich? Wann liegt die Executive Summary für die Vorgesetzten vor?

Die „learnings“ aus der Marktforschungsrunde fasst der Marketingchef mit den Thesen zusammen, die er bereits in seiner Einleitung vorgetragen hatte. Er bedankt sich bei allen Teilnehmenden und freut sich auf die nächste Quartalsrunde. Am Donnerstag in der letzten Woche des Juli. Dann wieder dem Kunden auf der Spur.

Über den Autor: Prof. Dr. Jürgen Häusler ist Chairman von Interbrand Central and Eastern Europe.