„Das Internet macht nicht dumm – es fördert neue Kompetenzen“

Der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer hat mit seinem Buch „Digitale Demenz“ die Republik aufgemischt. Altvordere fühlen sich bestätigt, Internetexperten laufen Sturm. Gunnar Sohn sprach mit dem Gaming-Experten Christoph Deeg. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim, außerdem Trainer, Berater und Speaker für die Bereiche Social-Media-Management und Gamification. In dieser Funktion berät er Unternehmen, Kulturinstitutionen sowie Städte und Gemeinden auf ihrem Weg in die digitale Welt. Zuvor war er im Marketing und Vertrieb für Unternehmen wie Walt Disney, Yamaha-Music und Harman Kardon tätig.

Seit Wochen wird über die Thesen von Hirnforscher Manfred Spitzer debattiert. Sein Werk ist mittlerweile an der Spitze der Sachbuch-Bestsellerliste. Wie beurteilen Sie den Verlauf des Disputs?

CHRISTOPH DEEG: Die Debatte verläuft eigentlich so, wie sie in solchen Fällen immer läuft. Wir müssen verstehen, dass es in Deutschland noch immer ganz viele Menschen gibt, die vor der digitalen Welt eine riesengroße Angst haben. Diese Menschen suchen sich diejenigen, die ihnen kontinuierlich bestätigen, dass man davor Angst haben muss. Es hat viel damit zu tun, dass wir in den Medien seit sehr langer Zeit nur die negativen Aspekte des Themas beleuchten. Ein gutes Beispiel ist hier die Diskussion um Facebook, die in der Regel nur aus der Sicht des Datenschutzes und der Privatsphäre diskutiert wird. Wenn man den Menschen aber sagt, dass beispielsweise Jugendliche bei Facebook geschlossene Gruppen nutzen, um ihre Hausaufgaben gemeinsam zu machen, gibt es immer ein großes Erstaunen. Wir haben eine sehr starke Fokussierung auf die vermeintlichen Gefahren der digitalen Welt. Aber es ist letztlich nur die Diskussion, die wir in den letzten Jahrhunderten bei allen neuen Technologien hatten, sei es die Erfindung der Eisenbahn oder die Erfindung des Buches.

Das Buch von Spitzer ist für viele Menschen wohl die richtige Projektionsfläche, um die eigenen Ängste bestätigt zu bekommen.

DEEG: Das ist genau das, was ich Spitzer vorwerfe. Ich könnte ja entspannt darüber hinweg schauen. Es ist kein wirklich gut geschriebenes und schon gar kein wissenschaftliches Werk. Jeder, der wissen will, was passiert, wenn Kinder und Jugendliche sich mit Computerspielen beschäftigen, vor dem Fernseher oder Computer sitzen, sollte nicht Manfred Spitzer, sondern Steven Johnson lesen. Johnson hat ein Buch mit dem Titel „Neue Intelligenz – Warum Computerspiele und TV uns klüger machen“ geschrieben. In diesem Buch wird skizziert, welche positiven Effekte durch den Konsum der digitalen Medien entstehen können. Johnson beschreibt zudem, warum es zu diesen positiven Effekten kommen kann und er belegt es durch eine Vielzahl an Studien.

Spitzer lässt in seiner Fundamentalkritik gar nichts aus. Er schmeißt alles durcheinander: Einmal spricht er von Computerspielen, dann von Computern. Er subsummiert dabei alles unter dem Begriff „digital“. Hat er wirklich durchschaut, um was es bei der Digitalisierung geht?

DEEG: Was ich Spitzer aber wirklich übel nehme, ist, dass er durch dieses Buch vor allem denen schadet, denen er eigentlich helfen will. Ich glaube ihm, dass er durch seine Erfahrungen mit Suchtkranken alles versuchen möchte, um dieses Leid in Zukunft zu verhindern und niemand wird abstreiten, dass es Menschen gibt, die unter Computerspielsucht leiden. Wir müssen alles tun, um diesen Menschen zu helfen. Aber was bewirkt denn die Lektüre des Spitzer-Bandes? Eltern lesen es oder hören davon und bekommen eine tief greifende Panikattacke. Im schlimmsten Falle werden sie ihren Kindern aus Angst die Nutzung digitaler Medien verbieten. In diesem Moment verschließen sie sich vor der digitalen Lebensrealität ihrer Kinder. Ihre Kinder wiederum werden heimlich im Netz surfen oder Computerspiele spielen. Im schlimmsten Fall üben die Eltern dann noch Druck auf die Schulen und andere Einrichtungen aus mit dem Ziel, dass auch dort die digitalen Medien verschwinden.

Eltern und Pädagogen sollten sich gemeinsam mit den Jugendlichen und Kindern die digitale Welt erschließen. Diese Möglichkeit macht Spitzer kaputt. Zudem darf man nicht vergessen, dass die Fähigkeit, sich in der digitalen Welt erfolgreich zu bewegen, eine zukünftige Schlüsselqualifikation sein wird. Wer jetzt den Kindern und Jugendlichen den Umgang mit den digitalen Medien verbietet, verringert deren Chancen auf einen guten Job in der Zukunft. Und nein: Die Playstation hält nicht vom Lernen ab – sie ist Lernen. Hätte sich Spitzer ein bisschen mehr mit der Materie befasst, würde er von Studien wissen, dass Gaming unglaublich viel mit Lernen zu tun hat. Gleiches gilt für das Internet. Die Google-Suche macht nicht dumm. Es erfordert Informations- und Recherchekompetenz, um relevante Informationen im Netz zu finden und zu verarbeiten.

Ich sehe das an meinem eigenen Sohn. Gerade diejenigen, die sich intensiv mit Computerspielen beschäftigen, können unglaublich viel.

DEEG: Absolut. Die digitale Welt verändert uns. In dem Buch „The Kids are all right – how the gamers-generation is changing the workplace“ beschreiben die Autoren John C. Beck und Michael Wade die Ergebnisse einer spannenden Studie. Wir erleben im Moment eine Situation, in der tausende Menschen unter 40 Jahren Führungsaufgaben übernehmen. Ihre Art zu managen und zu arbeiten unterscheidet sich aber massiv von der der Vorgängergeneration. Im Ergebnis geht es um eine Verbesserung des Managements, hervorgerufen durch die eigenen Gaming-Erfahrungen. Gaming ist in der Regel eine soziale Aktivität. Gamer treffen sich auf LAN-Partys oder Conventions. Sie diskutieren über Spiele und Strategien. Gaming ist eben keine isolierende Aktivität. Das Problem liegt nicht in der digitalen Welt, sondern in dem gesellschaftlichen Umfeld.

Spitzer spricht vom Aufstieg und Fall des E-Learnings und vergleicht das mit den hoffnungslosen Versuchen in Schulen, neue Medien einzuführen. So erwähnt er das berühmte Sprachlabor. In fast jeder Schule wohl eine nutzlose Einrichtung. Das hat aber doch überhaupt nicht mit dem vernetzten Lernen zu tun, oder?

DEEG: So ist es. In meiner Schulzeit hatten wir in meiner Gesamtschule so ein Sprachlabor. Es war teuer und es hat nie funktioniert. Man glaubte, man brauche Technik. Aber es geht nicht um neue Technik, sondern um neue Denk- und Arbeitsweisen. Geht es um Sprachlabore und Lernsoftware? Nein. Es geht um Schulmodelle wie das in New York ansässige Projekt „quest to learn“. Es ist eine Schule für Kinder der Sekundarstufe I. Der gesamte Lehrplan wurde zusammen mit Entwicklern der Gaming-Industrie erstellt. Die Kinder nutzen also nicht nur moderne Medien. Der gesamte Unterricht basiert auf der Kultur der digitalen Welt. Es ist nicht damit getan, dass wir bei Facebook ein paar Gruppen haben oder ein bisschen Gaming im Unterricht anbieten. In der digitalen Welt zeigen uns die Menschen, wie sie gerne lernen, arbeiten, kommunizieren, spielen und Spaß haben wollen. Wir müssen nur die Augen aufmachen.

Das Gespräch führte Gunnar Sohn.