Foto: Michael Bauer, Leiter der CRM-Beratung bei IBM Global Business Services
Herr Bauer, das Customer Relationship Management (CRM) entwickelte sich in den vergangenen Jahren zu einem Werkzeug für die Unternehmensführung. Wie ist der Stand? Welche Themen gewinnen an Bedeutung?
BAUER: Die bedeutendsten Veränderungen sehen wir bei der technologischen Basis von CRM-Programmen. Viele der heute existierenden Standardlösungen sind in ihrer monolithischen Architektur für eine moderne IT-Landschaft zu schwerfällig. Das Zauberwort heißt Serviceorientierte Architektur (SOA). SOA ist schon heute ein wichtiges Thema in den Überlegungen vieler Unternehmen, weil es genau die Flexibilität schafft, die Unternehmen für ein modernes CRM heute brauchen. Zum Zweiten werden sogenannte „Software as a Service“- Lösungen Marktanteile gewinnen. Hier geht es um vorkonfigurierte CRM-Lösungen, mit denen Unternehmen für einen definierten Zeitraum eine entsprechende Anzahl an „Arbeitsplätzen“ anmieten können. Wesentliche Vorteile sind Zeit- und Kostenersparnis. Nachteil ist der Mangel an Individualisierung.
Experten sprechen neuerdings von einem Customer Experience Engineering. Was verbirgt sich dahinter?
BAUER: „Customer Experience Engineering“ nennen wir das CRM der nächsten Generation: Ein Unternehmen plant und gestaltet – deshalb „engineering“ – bewusst, aktiv und konsistent sämtliche Berührungspunkte, Interaktionen und Erfahrungen, die ein Kunde mit ihm haben kann. Dies umfasst funktionale Aspekte wie Produkte, Dienstleistungen und Vertriebskanäle, aber auch – nicht weniger wichtig – Erfahrungen mit Mitarbeitern, externen Repräsentanten wie Händlern oder Maklern, sowie jede andere Form der Kommunikation vom Produkt-Design über die Aufmachung einer Rechnung, Mailings bis hin zum Fernsehspot und alle anderen direkten und indirekten Erfahrungen mit der Marke.
Ist das noch zu steuern?
BAUER: All diese Komponenten werden vollständig aufeinander abgestimmt und miteinander vernetzt, aktiv gestaltet, gemessen und gesteuert. Die separate Steuerung einzelner Kanäle wird verschwinden, genauso wie rein soziodemographische Kundensegmentierungen oder „Zufalls“-Kommunikation. Ein Unternehmen, das seine Angebote, sein Auftreten, seine Prozesse und Infrastrukturen in diesem Sinne ausrichtet, nennen wir „Customer Focused Enterprise“ – ein vollständig und kompromisslos kundenzentriertes Unternehmen.
Und was bedeutet das für das Marketing?
BAUER: Marketing muss die Kontrolle über vier Ps, nämlich „Product, Price, Place und Promotion“ haben. In den meisten Fällen kontrolliert die Marketingabteilung heute jedoch nur noch ein P: Promotion. Damit die Marketingabteilung ihre Bedeutung zurück gewinnen kann, sind vor allem folgende Schritte empfehlenwert: Erstens eine rigorose thematische Schwerpunktverlagerung: Weg von einzelnen Medien und Kanälen hin zu einem ganzheitlichen Customer Experience Management wie oben beschrieben. Zweitens: Anstelle “kreativer” Fähigkeiten im Marketing-Bereich ist verstärkt strategisches und unternehmerisches Denken gefragt, kombiniert mit dem Verständnis von quantitativen Analysen, Controlling und Finanz-Parametern. Drittens: Aufgrund des veränderten Konsumentenverhaltens benötigen Marketing-Fachleute neue Technologien und neue Kompetenzprofile und Anreizsysteme, um Kampagnen erfolgreich umzusetzen und analytischen Support zu leisten. Eine enge Zusammenarbeit mit den Bereichen IT und HR ist deshalb zunehmend erfolgsentscheidend.
Die Branche erwartet in Hinblick auf die Optimierung ihrer Geschäftsstrategien einen erheblichen Bedeutungszuwachs im Bereich analytischer CRM. Wie ist das zu erklären?
BAUER: Die kaum noch beherrschbare Datenflut hat bislang nicht zu einem besseren Verständnis des Kunden geführt. Gefragt sind Lösungen, die die Komplexität reduzieren. Weitreichende Fortschritte in der analytischen IT ermöglichen etwa eine Art „individuelles Massenmarketing“: Kunden werden genau dann kontaktiert, wenn das Abschlusspotential besonders hoch ist – Ein Mobilfunkunternehmen könnte auf diese Weise zum Beispiel einem frisch verheirateten Paar zeitnah einen Partnertarif anbieten.
Mit so genannten „Information On Demand“-Strategien sollen Unternehmen flexibler, reaktionsfähiger und wettbewerbsfähiger werden. Was ist daran wirklich neu?
BAUER: Immer mehr Unternehmen wollen das komplexe Thema der Datenintegration besser in den Griff bekommen. „Information On Demand“ (IoD) heißt, aufbauend auf der vorhandenen Informationsinfrastruktur, die Informationen aus ihren Anwendungssilos herauszulösen und unternehmensweit als strategische Ressource zu verwalten und verfügbar zu machen. Dies erhöht den Nutzwert der Informationen, da Mitarbeitern, Partnern und Kunden Anwendungen und Prozesse bedarfsgerecht bereitgestellt werden können. Gleichzeitig bietet es mehr Flexibilität, da neue interne und unternehmensübergreifende Geschäftsprozesse und Anwendungen leichter und schneller auf der Basis einheitlicher Informationsservices realisiert werden können.
Wird CRM an Bedeutung gewinnen, gleich bleiben oder verlieren?
BAUER: Die strategische Bedeutung von CRM wird sich noch weiter erhöhen, weil Unternehmen den Kunden als Quelle für Innovation erkannt haben. Nur mit Innovationen können die Unternehmen sich im Markt differenzieren und neue Wachstumschancen erschließen. Mit dem Ansatz des vollständig kundenzentrierten Unternehmens unterstützt CRM dieses Thema ganzheitlich: Virales Marketing, Web 2.0 Marketing und Customer Advocacy sind nur einige CRM-Maßnahmen, die inhaltlich wie technologisch Produkte, Services und Marktstrategien mit enormer Kraft in die Märkte bringen können. Neue Themenschwerpunkte von globaler Relevanz, wie beispielweise der Klimaschutz, sind ebenfalls Wegbereiter für neue und vollständig auf das jeweilige Thema ausgerichtete Geschäfts-, Kunden- und Marktsstrategiemodelle.
Michael Bauer ist Leiter der CRM-Beratung bei der Unternehmensberatung IBM Global Business Services