Bitcoin war gestern, jetzt folgt die Token-Ökonomie – Kryptoexpertin Shermin Voshmgir über die Zukunft des Geldes

Das neue Buzzword im Blockchain-Kosmos sind Tokens. Im Interview erklärt Shermin Voshmgir, Leiterin des Forschungsinstituts für Kryptoökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien, wie sie unser Wirtschaftssystem und Konsumverhalten verändern könnten.

Frau Voshmgir, die Idee hinter Bitcoin war, ein alternatives Finanzsystem zu errichten: staatsfern, dezentral, global. Mittlerweile reden alle nur noch von Tokens. Zahlen wir in Zukunft unser Brot mit Bread-Tokens?

SHERMIN VOSGMGIR: Das ist durchaus möglich. Ob, wann und wie das genau geschehen wird ist allerdings schwer vorherzusagen, da wir uns noch sehr früh in der Entwicklungsphase dieser neuen Token-Ökonomie befinden. Wie sie unser Wirtschaftssystem verändern wird, ist schwer zu sagen. Bereits heute werden rund 1.600 sogenannte Kryptowährungen auf Coinmarketcap gehandelt. Der Begriff Kryptowährung ist hierbei leider irreführend. Die meisten dieser Werte sind Blockchain-basierte Tokens, die nie darauf ausgelegt waren, Geld zu ersetzen, sondern Waren und Dienstleitungen repräsentieren. 

Was genau sind Tokens heute?

Zunächst mal sind sie kein neues Phänomen und waren auch vor Blockchain ein gängiger Begriff. Blockchain-basierte Tokens erlauben bloß zum ersten Mal, solche Systeme zu niedrigen Kosten aufzusetzen. Eine klare Definition von Token gibt es aus heutiger Sicht noch nicht, die Begrifflichkeiten entstehen gerade erst. Welche Funktion ein Token genau hat, ist im Whitpaper des jeweiligen Projekts nachzulesen.

Ganz allgemein kann ein Blockchain-Token Werte oder Berechtigungen repräsentieren: ein Wirtschaftsgut, einen Vermögenswert, ein Stimmrecht, eine Dienstleistung oder eine Zugangsberechtigung. Er kann Bezeichnung für eine Ersatzwährung, Komplementärwährung oder Wertmarke sein – Bitcoin etwa, Bonuspunkte in einem Vielfliegerprogramm, ein U-Bahn-Token zur Nutzung der New Yorker U-Bahn oder wie ein Jeton als Spielgeld im Glückspiel.

In der Informatik werden Tokens als Hilfsmittel zur Identifizierung und Authentifizierung verwendet. Im Blockchain-Kontext kann ein kryptografischer Token als Hybrid dieser beiden Ausprägungen gesehen werden. Er ist dann so was wie ein Schlüssel oder Fingerabdruck. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen handelbaren – „fungible“ – Tokens und nicht handelbaren. Die einen sind übertragbar und liquide, die anderen sind an eine Person gebunden, beispielsweise ein Stimmrecht oder Bonuspunkte, die nur ich persönlich einlösen kann. 

Wie beeinflussen Tokens die Bedeutung von Geld, wie wir es kennen?

Die wichtigsten Funktionen von Geld sind Tauschmittel, Wertaufbewahrung, Recheneinheit und Wertmaßstab als Basis für Preise, Schulden und Buchhaltung. Das alles wird sich in Zukunft nicht ändern. Herkömmliche Fiat-Währungen wie Euro oder Dollar könnten aber ihre Monopolstellung verlieren. Als Ergänzung könnten Tokens auch nachhaltigere Produktionszyklen ermöglichen.

Was meinen Sie damit?

Ich könnte Tokens kreieren, die mich für umweltfreundliches Verhalten belohnen. Wenn ich laufe oder Fahrrad fahre, statt das Auto zu nehmen, Solarstrom nutze, könnte ich mit einem CO2-Token belohnt werden. Pflanze ich einen Baum oder recycle Plastik, bekomme ich vielleicht einen „Baum- Token“ oder „Plastik-Token“. Beispiele gibt es schon jetzt unzählige: den Solarcoin, Plactic Bank, Ecocoin, den Earth-Token und viele mehr.

Das klingt, als sollen Token-Systeme uns zu besseren Konsumenten erziehen. 

Besser und schlechter ist immer Ansichtssache. Darum geht es gar nicht. Mit den neuen Technologien können wir aber bestimmtes Verhalten fördern und transparenter machen. Wir müssen nur aufpassen, wie wir diese Anreizsysteme gestalten. Erfüllen sie ihren Zweck, ohne Kollateralschäden zu hinterlassen? Ist die Privatsphäre jedes Einzelnen gewahrt, oder bauen wir Kontrollmaschinen? Technologie ist immer nur ein Werkzeug. Wie wir sie einsetzen, liegt letztendlich in unserer Hand. Es gibt viele Potenziale, aber auch Gefahren.

Was mache ich mit diesen Tokens als Nutzer, was bringen sie mir?

Die Tokens sind ein Anreiz, ein bestimmtes System, eine Ware, Verhalten oder Unternehmen zu unterstützen und dadurch am Laufen zu halten. Nehmen wir das Blockchain-basierte soziale Netzwerk Steemit. Es ist nur eines von vielen Beispielen, die es bereits gibt, und hat seit 2016 schon 800 000 registrierte Nutzer gewonnen.Genau wie in anderen sozialen Netzwerken kann man auf Steemit Inhalte posten, kommentieren und bewerten – mit dem Unterschied, dass Nutzer mit jeder Aktion Tokens verdienen. Steemit gibt drei verschiedene Arten von Tokens heraus, die im Netzwerk unterschiedliche Funktionen erfüllen: Steem, Steem-Power und Steem- Dollar.

Je mehr Steem-Power etwa ein Nutzer hat, der einen meiner Beiträge liked, desto mehr Tokens verdiene ich als Autor des Posts. Einige dieser Tokens können auf Kryptobörsen gegen andere Kryptowährungen – und letztlich auch Euro – getauscht werden. Das heißt, ich kann mit der Teilnahme an einem sozialen Netzwerk am Ende „echtes Geld“ verdienen oder die verdienten Tokens gegen andere Werte, Dienstleistungen oder Waren eintauschen. Man nennt so etwas Anreiz- oder Belohnungssystem. Es soll dazu führen, dass Menschen statt Facebook
Steemit nutzen und am Leben halten.

Das Anreizsystem von Steemit ist recht komplex und hat viele Schwachstellen, aber es ist ein erstes reales und sehr interessantes Fallbeispiel einer Token-Ökonomie. 

Wie weit sind wir von dieser Token-Ökonomie noch entfernt?

Die Technologie ist stellenweise noch unreif und es gibt viele ungeklärte juristische Fragen. Aber sie ermöglicht schon jetzt wirtschaftliche Interaktionen, die vorher nicht möglich waren – so wie das Internet Social Media überhaupt erst möglich gemacht hat. Wer konnte sich schon in den 1980er- oder 1990er-Jahren, als E-Mail noch eine Revolution darstellte, vorstellen, dass wir 2004 schon Facebook haben werden?  Bis sich neue Technologie aber in der breiten Masse durchsetzt, bedarf es meist einiger Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Wobei wir in sehr beschleunigten Zeiten leben. Diesmal geht’s vielleicht etwas schneller. Die Zukunft ist zwar schon da, sie ist aber noch nicht bei jedem  angekommen.