Viertagewoche – gute Lösung oder mehr Stress?  

In Deutschland ringen Interessenvertreter um die Viertagewoche. Aktuelle Studien zeigen: Manche Mitarbeiter*innen befürchten mehr Stress. Was kann das neue Arbeitszeitmodell wirklich leisten?
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Die Viertagewoche sorgt nicht nur für Begeisterung, sondern auch für Ängste. (© Stocksy)

Sie soll es richten. Auf LinkedIn und Co. wird die Viertagewoche als Lösung für einen ganzen Strauß an Problemen gehandelt. Durch bessere Arbeitsbedingungen soll sie Beschäftigte entlasten, neue Fachkräfte an Land ziehen und die Produktivität steigern. Eine Viertagewoche befürworten laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung 81 Prozent der Beschäftigten – zumindest, wenn man das Thema Lohnausgleich außen vorlässt. Sinkt mit der Wochenlänge auch das Gehalt, bleiben nur knapp 8 Prozent übrig.  

Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Von den 17 Prozent, die das neue Modell ablehnen, befürchten 77 Prozent, ihre Arbeit in weniger Zeit nicht zu schaffen. 82 Prozent haben das Gefühl, es würde sich nichts an den Arbeitsabläufen ändern. Große Differenzen zwischen Geschlechtern, Branchen, Alters- oder Einkommensgruppen gibt es dabei nicht.  

Das alles zeigt: Die Viertagewoche sorgt unter Beschäftigten nicht nur für Jubel, sondern auch für ernsthafte Bedenken. Wie befreiend kann ihre flächendeckende Einführung also überhaupt sein? Laut dem Arbeitszeitreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) möchten Vollzeitbeschäftigte in Deutschland durchschnittlich 34,4 Stunden pro Woche arbeiten. Das sind fast sechs Stunden weniger als bisher. Offen bleibt, welches Modell sie fordern. In Belgien beispielsweise haben Beschäftigte einen gesetzlichen Anspruch darauf, nur vier Tage in der Woche zu arbeiten. Die magische Zahl von 40 Wochenstunden bleibt allerdings dieselbe.  

Erholungsdruck statt Entspannung 

In Deutschland sorgt die zusammengestauchte Arbeitswoche für Skepsis. Eike Windscheid, Co-Autor der Studie der Hans-Böckler-Stiftung, spricht von Arbeitszeitverdichtung: „Das möchte niemand, nahezu alle Befragten wollen das nicht. Denn die Vorteile, die mit einer realen Arbeitszeitverkürzung einhergehen, werden damit konterkariert.“ Dass sich Beschäftigte in der komprimierten Erholungsphase verstärkt um sich, ihre Familie oder ein Ehrenamt kümmern, sei unwahrscheinlich. Das sei ein unglaublicher Erholungsdruck.  

Dies kritisiert auch Nils Backhaus, Leiter der Gruppe „Arbeitszeit und Flexibilisierung“ beim BAuA und Mitherausgeber des Arbeitszeitreports: „Auf den ersten Blick hat man einen Tag gewonnen. Aber an den übrigen vier Tagen zahlt man drauf.“ Schließlich hätten bereits die überlangen Arbeitstage negative Auswirkungen, erläutert er. Und weiter: „Die andere Frage ist, wie viel die Erholung an einem Tag als Ausgleich für die mangelnde Erholung an vier Tagen bringen kann.“ Die psychischen und körperlichen Ressourcen, die Mitarbeiter*innen am freien Tag einsparen, benötigen sie an den verbleibenden vier Arbeitstagen umso mehr. Ihr persönlicher Energiehaushalt könnte so dauerhaft ins Minus rutschen. Die Forschung spricht hier von einem Rebound-Effekt.  

Viertagewoche ist nicht gleich Viertagewoche? 

Doch es geht auch anders. Das zeigt ein Modellversuch in Großbritannien. Bei gleichem Gehalt und gleicher Leistung arbeiten Beschäftigte dort nur 80 Prozent der Stunden, also vier Tage die Woche. Die Folge: Sie sind gesünder, zufriedener und sogar produktiver. 

In Deutschland sind solche Modelle noch selten. Eine Evaluation in der Breite lässt auf sich warten. Expert*innen hierzulande mahnen derweil, die Ergebnisse seien nicht ohne Weiteres übertragbar. Schließlich melden sich vor allem solche Unternehmen zu Modellversuchen an, die wenig Probleme bei der Umsetzung erwarten. Ferner ist der Produktivitätsausgleich laut Kritiker*innen nicht garantiert. In den Modellversuchen tauche er primär in Form von Umsatzsteigerungen auf. Sinnvoll und möglich sei das aber längst nicht bei allen Jobs. Busfahrer*innen beispielsweise können nicht einfach schneller fahren und so mehr Runden drehen.  

Für Unternehmen hat die Viertagewoche einen weiteren wichtigen Aspekt: Viele rechnen damit, dass sie den Fachkräftemangel lindern würde, weil sie mit Sorgearbeit besser vereinbar ist. Das betrifft insbesondere Frauen, die nach wie vor häufiger Betreuung und Pflege übernehmen. Wer sich um Kinder oder Angehörige kümmert, kann unter dem neuen Modell eher eine volle Stelle besetzen. Darauf dürfte auch die Marketingbranche hoffen, die händeringend qualifizierte Mitarbeiter*innen sucht. Jedoch wartet gegebenenfalls eine herbe Enttäuschung. Denn schließlich geht der Plan nur auf, wenn andere Branchen keine neuen Modelle umsetzen. Damit aber ist eher nicht zu rechnen. Der Wunsch nach weniger Arbeitszeit herrscht branchenübergreifend. 

Einfach kurzerhand eine Viertagewoche einzuführen, löst die Probleme also nicht. Daher ruft Studienautor Windscheid dazu auf, wirklich an das Arbeitssystem ranzugehen und es neu zu gestalten: „Dafür muss man sich die Arbeitsstrukturen, die Prozesse, die Führung, die Aufgaben, die Verteilung der Arbeitslasten und die Präventionsbedingungen ansehen.“ Das alles könne und müsse man optimieren, um eine reale Arbeitszeitverkürzung zu erreichen. 

Ängste der Beschäftigten sind nicht unberechtigt 

Eine solche Veränderung geschieht nicht von allein. Um in weniger Zeit dieselbe Leistung erbringen zu können, braucht es weniger Ablenkung und mehr Disziplin – eine persönliche Herausforderung für Beschäftigte. Dass manche Unternehmen Produktivitätssteigerungen erwarten, dürfte ebenfalls nicht gerade für Entspannung sorgen. Wird die Viertagewoche als Produktivitäts-Push kommuniziert, dient sie aus Sicht der Beschäftigten primär dem Arbeitgeber. Ihr eigener gesundheitlicher und sozialer Vorteil rückt in den Hintergrund. Das dürfte die Bedenken mancher Mitarbeiter*innen weiter verschärfen. 

Diese Bedenken lassen sich jedenfalls nicht so leicht wegdiskutieren. Wie man mit ihnen umgeht, weiß Anna Arlinghaus. Beim Wiener Beratungsunternehmen Ximes begleitet die Arbeitszeitexpertin Unternehmen bei der Umsetzung neuer Arbeitszeitmodelle. Vor allem müsse man die Beschäftigten gut informieren: „Was ist das Ziel, was bringt es ihnen für Vorteile? Man muss sie mit einbinden. Zudem ist eine gewisse Freiwilligkeit oft gut. Dabei empfehlen wir, dass es eine Wahlmöglichkeit gibt.“ Mitarbeiter*innen entscheiden also selbst, ob und inwiefern sie weniger Stunden arbeiten möchten. „Das lässt viel Spielraum, wo man die Leute einbinden kann“, so Arlinghaus.  

Gegen die Veränderungsängste helfen außerdem temporäre Pilotprojekte. Dazu rät Arlinghaus insbesondere in großen Betrieben, wo die Umsetzung grundsätzlich schwieriger sei. Denn manche Aufgabenbereiche lassen sich einfacher in ein anderes Arbeitsmodell überführen als andere: „Tätigkeiten, die sehr zeitgetaktet sind, wie in der Produktion, sind sehr schwierig abzukürzen. Wissensarbeit und generell Bürotätigkeiten sind oft deutlich flexibler.“ Um trotzdem für Fairness zwischen den Abteilungen zu sorgen, ließen sich andere Benefits organisieren, wie zum Beispiel mehr Flexibilität oder eine Entgelterhöhung. 

„Die Viertagewoche ist kein Allheilmittel“ 

Ebenso wichtig ist es laut Arlinghaus, mit einem möglichen Wunschdenken aufzuräumen. Denn flächendeckende Produktivitätssteigerungen hält sie nicht für realistisch: „Die Produktivität im Gesamten aufrechtzuerhalten, das wäre eigentlich das Ziel.“ Dazu analysiere man die Zeitfresser und schaue, womit man unnötig viel Zeit verbringt. In diesem Kontext unterstreicht sie die Rolle von Automatisierung, etwa durch neue Software. 

Ähnlich mahnt Windscheid zu mehr Realismus: „Die Viertagewoche ist kein Allheilmittel. Aber sie hat das Potenzial, dem Fachkräftemangel zu begegnen und gleichzeitig Vereinbarkeits- und Gleichstellungsaspekte anzusprechen.“ In der Studie empfiehlt er gemeinsam mit Co-Autorin Yvonne Lott eine Opt-out-Regelung: Hierbei dient die Viertagewoche als Standardmodell für alle; und wer mehr arbeiten möchte, kann das beantragen. Während sich Beschäftigte heutzutage um Teilzeit bemühen müssen, würde somit die Rechtfertigung umgekehrt, so die Forscher*innen.  

Arlinghaus weist als Fazit darauf hin, das eigentliche Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: mehr Flexibilität. „Es muss nicht immer der neueste Hype sein“, bringt die Beraterin es auf den Punkt. „Es gibt viele andere innovative und spannende Möglichkeiten, die Arbeitszeiten selbstbestimmter zu gestalten und damit Entlastung zu schaffen.“ Einzelne Lösungen wie Gleitzeitelemente, die Verschlankung von Prozessen oder die zeitliche Begrenzung von Meetings können die Probleme mildern, ohne an der Arbeitszeit zu rütteln. Anstatt pauschal zur Viertagewoche zu greifen, sollten Arbeitgeber zunächst mal die vielen anderen Stellschrauben in den Blick nehmen. Gegebenenfalls erzielen sie damit eine viel größere Wirkung – ohne Rebound-Effekt. 

(js, Jahrgang 2001) ist seit Juli 2023 freier Autor der absatzwirtschaft. Er ist fasziniert von neuen Technologien und der Frage, warum Konsumenten das tun, was sie tun. Außerdem ist er ein wahrer Espresso-Enthusiast.