Es gibt nichts Gutes … 

... außer man tut es: Wie der Attitude-Behavior-Gap dem Nachhaltigkeitsmarketing schadet und warum die EU jetzt auf internationale Klimadiplomatie setzt.
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Wie sich Nachhaltigkeit und Wirtschaft vereinbaren lassen, bleibt die spannende Frage. (© Pixabay)

Aufreger zu Wochenbeginn war eine Statistik zum Jahresabsatz 2023 der deutschen Heizungsindustrie. Nicht der Zuwachs bei Wärmepumpen beherrschte die Schlagzeilen – immerhin ein Plus von 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr –, sondern die Beliebtheit fossiler Wärmequellen: Der Absatz von Gasheizungen stieg um ein Drittel, der von Ölheizungen verdoppelte sich sogar. Als wüsste niemand, dass fossiles Heizen wegen der CO2-Bepreisung drastisch teurer werden wird, als gäbe es den Klimawandel nicht. 

Die absoluten Zahlen machen die Sache nicht besser: Rund 900.000 Konsument*innen entschieden sich für Öl oder Gas, nur 400.000 für eine ökologischere Variante (Wärmepumpe oder Biomasse). Der Bundesverband der Deutschen Heizungsindustrie spricht verklausuliert von „Vorzieh- und Sondereffekten“. Ist also Robert Habeck an allem schuld, oder die Ampel-Koalition? Für Marketer*innen aller Branchen ist die Entwicklung auch deshalb interessant, denn sie wirft ein Schlaglicht auf die Stimmung im Land – auf die wundersame Widersprüchlichkeit von Reden und Handeln. 

Ist der Lebensstandard bedroht, wird das Klima weniger wichtig 

Während Konsument*innen in Umfragen immer wieder die Absicht bekunden, sich ökologisch einwandfrei zu verhalten, sieht die Realität häufig anders aus. Das als Attitude-Behavior- oder Value-Action-Gap bekannte Phänomen ist offenbar besonders ausgeprägt, wenn die Verunsicherung wächst und der Politik keine klare Ansage gelingt. „Die meisten Bürger wollen, dass es bei der Bekämpfung des Klimawandels voran geht, sind aber zugleich besorgt über die Auswirkungen auf ihr eigenes Leben“, sagte vergangene Woche der EU-Kommissar für Klimaschutz, Wopke Hoekstra, in einem bemerkenswerten Auftritt bei der Brüsseler Denkfabrik Bruegel.  

Abkehr vom Dirigismus des „Green Deal“? 

Offenbar wachsen in den Mitgliedsländern die Bedenken, dass die EU der Wirtschaft mit allzu ehrgeizigen Vorgaben schadet, Stichwort Wettbewerbsfähigkeit. Ganz oben auf der Agenda solle künftig, so Hoekstra, die internationale Klimadiplomatie stehen, schließlich stammten nur sieben Prozent der globalen CO2-Emissionen aus Europa. Auch müsse sich der Handel mit CO2-Emissionsrechten, den die EU bereits verankert hat, international durchsetzen. Und, auf die Frage eines Diskussionsteilnehmers: Europas Industrie moniere zu Recht, dass Energie in den USA bedeutend billiger zu haben sei. „Das müssen wir lösen“, fordert EU-Kommissar Hoekstra. Bahnt sich hier etwa eine Abkehr vom Dirigismus des „Green Deal“ an – und wäre das dann ein Rückschritt oder ein Fortschritt? 

70 Konzernchefs fordern einen Industrial Deal 

Für die Unterzeichner*innen der am Dienstag verabschiedeten „Antwerpener Erklärung“ dürfte die Antwort auf der Hand liegen: Mehr als 70 europäische Konzernführer*innen fordern von der EU jetzt einen „Industrial Deal“. „There is an urgent need for clarity, predictability, and confidence in Europe and its industrial policy”, heißt es in dem Appell; verlangt wird unter anderem die Abschaffung überflüssiger Regulierung und eine stärkere Förderung umweltfreundlicher Technologien. (Wobei die EU erneuerbare Energien schon jetzt großzügig unterstützt und zum Beispiel gerade den enormen Betrag von 6,9 Milliarden Euro für Wasserstoffprojekte bereitgestellt hat.) Es sind gewiss keine neuen Forderungen, interessant ist die Argumentation: „We need to keep industry in Europe because the industry will deliver the climate solutions Europe needs.“  

Mittelstand vermisst Zahlungsbereitschaft 

Zumindest große Teile des deutschen Mittelstands betrachten Nachhaltigkeit weiterhin als Chance, wie eine ebenfalls am Dienstag veröffentlichte Studie von Haufe zu Corporate Sustainability belegt. Die Autor*innen analysieren vier Typen von Unternehmensführer*innen: Wegbereiter, Routiniers, Einsteiger und Skeptiker. Die gute Nachricht: Nur 20 Prozent der Befragten würden sich einer Nachhaltigkeitsstrategie am liebsten verweigern; die anderen 80 Prozent sind intrinsisch motiviert, akzeptieren die Aufgabe als Teil des Managements oder haben zumindest mit der Umsetzung begonnen. Treiber sind vor allem Kundenerwartungen und das Bemühen um Zukunftssicherung. Aber: Ein knappes Drittel der Befragten beklagt, dass die Kunden nicht bereit seien, für mehr Nachhaltigkeit auch mehr Geld auszugeben.  

Da ist sie wieder, die fatale Kluft zwischen Willen und Anspruch, die im schlimmsten Fall eine Abwärtsspirale auslösen kann: Wenn Unternehmen umweltfreundliche Produkte, Dienstleistungen oder Prozesse mangels Nachfrage reduzieren, verliert Nachhaltigkeit bei den Konsument*innen an Stellenwert – und irgendwann bröckelt der Trend.  

Nachhaltigkeit braucht sichtbare Signale 

Hut ab vor allen, die sich trotz aller Widerstände nicht entmutigen lassen, auch nicht durch ungerechte Greenwashing-Vorwürfe. Wenn sich Unternehmen aus Angst vor Klagen nicht mehr trauen, ihr Umweltengagement plakativ zu dokumentieren, geht für die, die sich ernsthaft um nachhaltigen Konsum bemühen, eine wichtige Signalwirkung verloren. Besonders absurd ist der Streit zwischen der Deutschen Umwelthilfe und der Drogeriekette dm um das Label „umweltneutral“, das für eine ganzheitliche, wissenschaftlich begleitete Kompensationsstrategie steht. Die Zeit hat ihn in einer lesenswerten Hintergrund-Recherche ausgeleuchtet.  

Eine gute Woche noch, und behalten Sie die Zukunft im Blick! 

(mat) führte ihr erstes Interview für die absatzwirtschaft 2008 in New York. Heute lebt die freie Journalistin in Kaiserslautern. Sie hat die Kölner Journalistenschule besucht und Volkswirtschaft studiert. Mag gute Architektur und guten Wein. Denkt gern an New York zurück.