Employee Retention: Langeweile ist das Schlimmste 

Der Fachkräftemangel ist tückisch. Nie war es für Beschäftigte leichter und verlockender, Jobs zu wechseln. Das eigene Team zusammenzuhalten und zu begeistern, ist herausfordernd – aber machbar, wie aktuelle Beispiele zeigen.
Vacant and empty office space with sing business office chair during recession
Mit New Work zieht das Homeoffice verstärkt in der Arbeitswelt ein. (© Stocksy)

Viele Jobs in Deutschland können nicht besetzt werden. Rund 1,74 Millionen Stellen waren im zweiten Quartal 2023 in hiesigen Unternehmen noch zu vergeben. Das geht aus einer aktuellen Erhebung des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hervor. Zwar liegt die Anzahl im Vergleich zum Vorjahresquartal um zehn Prozent niedriger – aber noch vor drei Jahren, im Q2 2020, zählte man nur 844.000 offene Positionen. Somit sind heute etwa doppelt so viele Stellen unbesetzt als drei Jahre zuvor. Arbeitskräfte sind rar; das legt die Hürde für einen Jobwechsel sehr niedrig.  

Neues ausprobieren? Wann, wenn nicht jetzt. Das sagen sich in diesen Zeiten viele Arbeitnehmer*innen. Die Agenturbranche ist üblicherweise besonders stark von Mitarbeiterfluktuation betroffen. Doch Carolin Lessoued und Kerstin Bock treten dieser Entwicklung erfolgreich entgegen. Sie führen als Co-CEOs die von ihnen im Jahr 2013 gegründete Agentur Openers. Innerhalb der vergangenen drei Jahre konnten sie 90 Prozent ihrer Belegschaft halten. Der Kommunikationsdienstleister berät Marken und Tech-Anbieter und ist trotz Pandemie gewachsen. Mittlerweile zählen 30 Mitarbeitende zum Team. Möglich wurde dies durch einen Mix wertschätzender Maßnahmen.  

Eigenverantwortung und offene Struktur 

Den Mitarbeitenden Eigenverantwortung und Purpose zu geben, steht für die Agentur-Chefinnen ganz oben auf der Agenda. Auch eine offene Struktur gehört für sie dazu. „Man muss viel Freiheit geben und gleichzeitig nah an den Wünschen und Bedürfnissen der Mitarbeiter*innen sein“, sagt Bock. Remote Work ist für alle jederzeit möglich und auch in Teilzeit können C-Level-Positionen bekleidet werden. 

Zusätzlich zu den Urlaubstagen erhalten Teammitglieder alle zwei Monate einen so genannten Self-Care-Day, um die mentale Gesundheit zu fördern. Aktuell denkt man darüber nach, diese Tage in einen „Flex-Friday“ umzuwandeln – eine Art 4 Tage-Woche light, bei der Mitarbeiter freitags nur nach eigenem Ermessen arbeiten müssen, sich aber auch weiterbilden oder den Tag für Sport und Freizeit nutzen können. „Gehalt und Perspektiven sind wichtig. Aber die Work-Life-Balance und die Möglichkeit flexibel zu arbeiten sind für junge Talente noch wichtiger“, sagt Bock.  

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„Sich zu langweilen und immer dasselbe zu geben, ist das Schlimmste, was Young Talents im Job passieren kann“, sagt Kerstin Bock. (© Openers)

Das Führungsteam versucht die Mitarbeiter abzuholen und lässt sie mitgestalten. Dazu wurde auch ein spezielles Mentor-Mentee-Format ins Leben gerufen – ein Tandem-Programm, um in Verantwortungen hineinzuwachsen. Jede*r Mitarbeiter*in hat dabei einen direkten, erfahrenen Ansprechpartner, der schnell weiterhelfen kann. Auch Junior-Positionen fungieren im Tandem-Programme von Beginn an als Mentor*innen und werden so zu Führungskräften ausgebildet. 

Um herauszufinden, wie zufrieden die Mitarbeitenden sind, helfen den Geschäftsführerinnen halbjährliche Feedbackgespräche und anonyme monatliche Abfragen. Außerdem finden One-to-One-Gespräche nach dem Zufallsprinzip statt. Ziel ist es, dass jede*r mit jedem spricht und sich austauscht. „Viel wichtiger als die Zufriedenheit der Mitarbeitenden zu kennen, ist es, darauf zu reagieren“, sagt Bock. Dazu sei es zwingend nötig, sich in diese Person hineinzuversetzen. Stutzig sollten Personalverantwortliche immer dann werden, wenn die Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen stagniert. „Sich zu langweilen und immer dasselbe zu geben, ist das Schlimmste, was Young Talents im Job passieren kann“, sagt Bock. 

Gemeinsam Erfolge definieren 

Unternehmen müssen daher mehr denn je aktiv werden: Ein angenehmes Arbeitsumfeld, flexible Arbeitszeitmodelle mit Homeoffice-Option und familienfreundliche Regelungen werden insbesondere von jungen Mitarbeitenden vorausgesetzt. Versteht man es, Kreativität zu fördern, Verantwortung zu übertragen und Freiheiten zu gewähren, lässt sich der Weg für eine langjährige Zusammenarbeit zusätzlich ebenen. Für Agur Jõgi, CTO des Softwareanbieters Pipedrive, ist es zudem besonders wichtig, allen Mitarbeitenden einen Sinn zu vermitteln. „Sie sollten verstehen, welchen Mehrwert ihre Arbeit für den Kunden kreiert, was ihr Arbeitsschritt im Gesamtkontext unseres Unternehmens bedeutet und wie wir gemeinsam Erfolg definieren und messen.“  

Wenn so eine Kultur geschaffen ist, lässt sich nach seiner Erfahrung ein weiterer Faktor der Mitarbeitenden-Bindung leichter implementieren: die unabhängige Problemlösung. Führungskräfte sollten aus seiner Sicht zwar Ziele und Grenzen vorgeben, den Teams und Individuen aber gewisse Freiheiten auf dem Weg dorthin geben, die die Kreativität und Zugehörigkeit fördern. Im Umkehrschluss heißt das allerdings nicht, dass die Mitarbeitenden komplett eigenverantwortlich agieren. Vielmehr sollten laut Jõgi Sicherheitsnetze entworfen werden, die Fehler abfedern und die Eigeninitiative der Belegschaft attraktiv machen.  

Um dies zu ermöglichen, hat Pipedrive intern die „Demo Demo Demo“ Days ins Leben gerufen. Sie sollen das Verständnis über das Unternehmen und seine Ziele schärfen. Teams, die sonst im Arbeitsalltag kaum oder wenig Berührungspunkte haben, zeigen und erklären aus ihren Perspektiven die neusten Entwicklungen und Fortschritte. Durch die Vorstellung mehrerer Teams ergibt sich letztlich der Gesamtkontext. Die einzelnen Teams verstehen so besser, welche Auswirkungen ihre Arbeit für die Kolleg*innen und Kollegen – und letztlich auch für die Kunden hat. „Der interaktive Austausch lässt dabei jederzeit Freiraum, Vorgehensweisen zu hinterfragen, Änderungen vorzuschlagen, sowie Kritik und Lob zu äußern – Werte, die für uns bei Pipedrive von großer Bedeutung sind“, sagt Jõgi. 

Gehälter überprüfen und gegebenenfalls anpassen 

Doch es wäre blauäugig anzunehmen, dass Mitarbeitende in der heutigen Zeit ausschließlich auf die Work-Life-Balance, Freiheiten, Verantwortung, Mitspracherecht und mögliche Karrierepfade achten: Wettbewerbsfähige Gehälter und Zusatzleistungen sind nach wie vor ein wichtiger Faktor für die Employee Retention. „Vor allem in Zeiten des Fachkräftemangels ist eine faire Entlohnung ein Hebel, um gegen eine hohe Fluktuation anzukämpfen“, sagt Peter Opdemom, B2C-Vorstand bei New Work, dem Mutterkonzern von Xing und Kununu. Noch vor wenigen Jahren waren Entlohnung und Gehalt noch Themen, mit denen man nur mit sehr engen Freund*innen sprach. Heutzutage können sich Mitarbeitende sogar auf Online-Plattformen über übliche Gehälter informieren und austauschen. Die Entlohnung ist transparent geworden und stellt Unternehmen vor neue Herausforderungen. 

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„Vor allem in Zeiten des Fachkräftemangels ist eine faire Entlohnung ein Hebel, um gegen eine hohe Fluktuation anzukämpfen“, sagt Peter Opdemom. (© New Work)

„Ausgelöst durch die zunehmende Gehaltstransparenz ist es wichtig, dass Unternehmen proaktiv und auf Augenhöhe mit ihren Mitarbeitenden in den Austausch gehen. Eine Kultur der offenen Kommunikation ist hierfür essenziell“, sagt Opdemom. Arbeitnehmer*innen sollten daher die Möglichkeit haben, Fragen zu Gehaltsstrukturen und Vergütungsmodellen zu stellen, um Orientierung zu erhalten und Vertrauen aufbauen zu können. Dem Experten zufolge wird es für Arbeitgeber noch wichtiger, klare Vergütungsstrukturen zu etablieren, die auf Erfahrung, Qualifikation und Leistung basieren. „Natürlich können mit zunehmender Transparenz auch Gehaltsunterschiede sichtbar werden. Aus diesem Grund sollten Unternehmen sich auch darauf einstellen, Gehälter zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen, um faire Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten.“ Unternehmen kommen nach seiner Einschätzung nicht drum rum, transparent mit Gehaltsstrukturen umzugehen, um sich als attraktiver und fairer Arbeitgeber zu positionieren. 

Die Tür für Rückkehrer offenhalten 

Somit zeigt sich: Es ist eine Gesamtstrategie und ein Maßnahmenmix notwendig, um Mitarbeiter langfristig für ein Unternehmen zu begeistern. Die einzelnen Aktionen zur Mitarbeitenden-Bindung müssen dabei zur Unternehmenskultur und zur Branche passen und sie sollten die spezifische Situation der Firma berücksichtigen. Doch der Aufwand kann sich gleich doppelt lohnen und sich selbst nach dem Weggang von Mitarbeitern auszahlen.  

Bestes Beispiel dafür ist die Münchner Digitalagentur Netzeffekt. Dort ist die Fluktuation gering, dennoch gibt es auch beim Performance-Spezialisten hin und wieder Mitarbeitende, die wechseln – oft von der Agentur- auf die Unternehmensseite. Allerdings können die Münchner in den vergangenen Jahren einen Trend ausmachen: Es kehren vermehrt Mitarbeiter*innen zurück in die Agentur. Die Möglichkeit agil zu arbeiten, kurze Entscheidungswege und der Agentur-Teamspirit sind häufige Beweggründe der Rückkehrer. „Ein großer Vorteil für uns ist es, dass diese Wiederkehrer mit ihren außerhalb der Agentur erworbenen Erfahrungen wichtige Impulse in den Agenturalltag einbringen“, sagt Werner Kubitscheck, Managing Director bei Netzeffekt.  

Um diesen Perspektivenwechsel zusätzlich zu fördern und den Austausch zu forcieren, hat die Agentur ein Alumninetzwerk gegründet. Jeder Mitarbeitende, der bei Netzeffekt ausscheidet, wird gefragt, ob er/sie ins Alumninetzwerk aufgenommen werden möchte. Die Alumni sind dann ein aktiver Teil des Agenturnetzwerkes. Folgerichtig werden sie auch regelmäßig zu Feiern und Festen des Dienstleisters eingeladen. Laut Kubitscheck war das Alumninetzwerk eine richtige Entscheidung und hat sich neben zahlreichen anderen Maßnahmen zu einem wichtigen Baustein der Mitarbeiterbindung entwickelt: „Das Alumninetzwerk fördert nicht nur den Austausch mit ehemaligen Kolleg*innen, es stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Mitarbeitenden.“ 

(kaz) ist Fachjournalist für digitales Marketing. Seit Mitte der Nullerjahre begleitet er mit seinen Artikeln die rasanten Entwicklungen der Online-Werbebranche. Der Maschinenraum der Marketing-Technologien fasziniert ihn dabei ebenso wie kreativ umgesetzte Kampagnen. Der freie Autor lebt und arbeitet in Berlin.