Amazon im Gesundheitssektor: Alarm für Europa

Amazon will den Gesundheitssektor erobern – der nächste Schritt des Online-Riesen in einen milliardenschweren Markt. Unser Kolumnist Tobias Spörer legt kritisch den Finger in die Wunde und beschreibt, warum die Amazon-Aktivitäten uns in Europa alarmieren sollten – und was das Schielen damit zu tun hat.
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Amazon forciert Veränderungen: "Das ist keine digitale Fantasie-Blase, sondern ein realer Tsunami." (© Amazon)

Ich weiß, wir können es alle nicht mehr lesen oder hören, dieses ewige Schielen nach Innovation aus USA oder China geht mir selbst gegen den Strich. Aber leider fehlt mir die Zeit, die wenigen europäischen Perlen der digitalen Innovation mit dem Mikroskop zu suchen. Wo der mRNA-Impfstoff von Biontech als ein Beweis für die Innovationskraft des Kontinents genommen werden kann, müssen wir uns trotzdem damit konfrontiert sehen, in anderen wichtigen oder gar systemrelevanten Bereichen abgehängt zu werden.

Ein ganzer Sektor wird angegriffen

Es sollte das amerikanische Gesundheitssystem umkrempeln: Haven, das großangelegte Vorsorgeprojekt von Amazon, JP Morgan und Berkshire Hathaway. Drei Jahre ist das nun her, und Haven wird offiziell beerdigt. Amazon geht jetzt einen eigenen Weg.

Während hierzulande noch darüber diskutiert wird, ob und wie man die großen US-Tech-Konzerne für ihre erwirtschafteten Gewinne besteuern kann, holt das aus Seattle stammende Unternehmen zum nächsten großen Schlag aus: Mit Amazon Pharmacy, Care und Health Lake schafft der E-Commerce-Primus ein digitales Ökosystem, das weit mehr ist als eine simple Online-Apotheke.

Die schlechte Nachricht für Doc Morris, Medpex & Co. ist also, dass Amazon sich natürlich anschickt, auch deren Teilbereich mit einer gigantischen Marketingmaschine zu erobern. Sind die Hürden der europäischen Regulatorik und GDPR erst einmal überwunden, wird sich hier einiges ändern. Wenn auch umstritten, zeigt der Kurs des Online-Riesen beispielhaft, was uns in Europa fehlt: der Fokus auf digitale Innovation in milliardenschweren Märkten.

Digitale Patientenakte: Amazon will Fakten schaffen

Mit Health Lake will Amazon mit seinen Web-Services auch im Bereich der Speicherung, Transformation und Analyse von Gesundheitsdaten harte Fakten schaffen. Dabei geht es nicht nur um eine komplette digitale Patientenakte. KI ermöglicht, die Datenmassen nicht nur zu strukturieren, sondern auch sinnvoll zu analysieren und so umfassende Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, wie auch bessere spezifische Behandlungs- und Therapieempfehlungen zu geben.

Das Produkt besitzt einerseits das Potenzial, den Kostendruck auf ein Gesundheitssystem wie das unsrige erheblich zu reduzieren. Aber kann – oder will? – Amazon den dazu nötigen wasserdichten Datenschutz überhaupt stemmen?

Uns droht jedenfalls, wie beim E-Commerce oder den Cloudservices, dass Amazon auch diesen Markt bestimmt. Hinzu kommt, dass die Projekte, die Amazon entwickelt, über kurz oder lang ein Risiko für den Wirtschafts- und Sozialstandort Europa darstellen könnten.

Die Prime-Apotheke von Amazon

Der weitaus weniger experimentelle, jedoch wirtschaftlichen Erfolg versprechende Case wird derzeit unter dem Titel Pharmacy nach vorne getrieben. Es lässt sich erahnen, welches Geschäftspotenzial alleine in Deutschland hinter 17 Millionen Prime-Kunden und einem Umsatz der bundesdeutschen Apotheken 2019 von rund 55 Milliarden Euro steht. Das große Netz an Logistikpartnern und die damit verbundene schnelle Lieferung, das bequeme Payment und der gewohnt starke Amazon-Service lassen nichts Gutes für die Mitbewerber prognostizieren. In Amerika ist Pharmacy bereits am Markt.

Telemedizin 24/7

Unter Care startet Amazon das Telemedizin-Angebot im Pilotstaat Washington zunächst für die eigenen Angestellten und deren Angehörige. Via App kann man sich im Chat Rat einholen, per Videokonferenz eine Onlinesprechstunde durchführen oder sich ärztliche Hilfe nach Hause kommen lassen. Das Team verspricht 24/7-Service an jedem Tag des Jahres. Eine Mammutaufgabe, die sich – sofern sie langfristig bewältigt und etabliert ist – am Ende für Amazon auszahlen wird. Es wird mehr und mehr bekannt, dass Amazon damit begonnen hat, den Service auch extern anzubieten und damit den Markt zu sondieren. Zumindest in Amerika könnte das den Markt komplett umkrempeln.

Diese mächtigen Services werden mit Add-ons abgerundet, die jedes für sich in Europa konkurrenzlos sind. Da gibt es die Möglichkeit, medizinische Sprache automatisch in verständlichen Text umzuwandeln, den Care Hub für Notrufe über Alexa und den Amazon-eigenen Fitnesstracker Halo. Berechtigte Datenschutzbedenken der Kunden könnte Amazon durch Preispolitik und Komfortfunktionen ausmerzen.

Wie geht es weiter?

Wirft man einen Blick auf nur diesen einen Teilbereich des Amazon-Universums, wird hoffentlich auch den Kandidaten in der letzten Reihe klar, in welcher Größenordnung hier Veränderung auf uns zurollt. Das ist keine digitale Fantasie-Blase, sondern ein realer Tsunami, der unsere keimenden Ansätze, wenn wir nicht bald vom Snooze- in den Umsetzungsmodus wechseln, komplett wegspülen wird. Es herrscht dringender Handlungsbedarf, bevor es zu spät ist.

Es geht schon lange nicht mehr darum, aus einem Fax eine E-Mail zu machen. Die Veränderungen sind fundamental, sodass wir ebenso fundamentale Antworten finden müssen. Die Corona-Krise hat uns eindringlich gezeigt, wie substanziell die Faktoren Gesundheit, Forschung und Digitalisierung für unsere moderne Gesellschaft sind. Auf diesen Säulen bauen wir unsere Zukunft. Und manche dieser Säulen müssen dringend verstärkt werden, damit die wirtschaftliche und soziale Zukunft Europas nicht irgendwann auf der Kippe steht. Als demokratische Gesellschaft haben wir ein Mitspracherecht.

Schielen wir also nicht nur nach Amerika oder China, sondern vor allem zur kommenden Bundestagswahl.