Die Lidl-Erfolgsgeschichte: Vom uncoolen Discounter zum innovativen Handelsriesen mit Blick auf die USA

Deutschlands Discountriese vollzieht einen radikalen Imagewechsel: Plötzlich sind exklusivere Produkte im Programm, die Läden werden schicker, das Angebot soll im Internet bestellbar und in der Filiale abholbar sein, während das Wachstum insbesondere in den USA gesucht wird. Wie sich Lidl als Marke neu erfindet – und dem Erzrivalen Aldi davonzieht.
Neue Filialgeneration. Lidl lässt sein Energiemanagement für alle Filialen in Deutschland zertifizieren (© obs/LIDL)

„Lidl lohnt sich“: Die Kampagne, die alles verändert

Marketingtechnisch sind es wohl die drei wichtigsten Worte in der 44-jährigen Konzerngeschichte, denn die Werber standen vor der Herkulesaufgabe, einen der unbeliebtesten Konzerne der Republik, der kaum positive Attribute vorzuweisen hatte, außer billig zu sein, mit einem nachhaltigen Sympathiewert aufzuladen.

Das gelang so: Zum wohligen Gitarrensound der Hamburger Band Kendric („The little Things“), der sofort Lagerfeuerromantik verbreitet, mischen zwei Kinder Ketchup zu Eis. „Manchmal sind 0,65 Euro ein einmaliges Experiment“, ist aus dem Off zu lesen. Dann sitzen zwei Teenager am Strand und knabbern vor dem ersten Kuss an Chips: „Manchmal sind 0,89 Euro der Beginn von etwas ganz Großem“, lautet die Botschaft. Dann scheitert ein junger Familienvater am Öffnen eines Marmeladenglases, Mutter und Kind lachen: „Manchmal lassen uns 0,99 Euro ganz schön schwach werden“, ist die Moral dieser Geschichte. Fazit des 90-Sekünders: „Ein Einkauf bei Lidl kann so ziemlich alles sein. Außer teuer.“ Es ist der Initiationsmoment des neuen Lidl: emotionaler, lebendiger, menschlicher. Mehr als acht Jahre ist die Kampagne alt – und hat bis heute nicht an Aktualität verloren: Noch immer wirbt Lidl mit dem Markenversprechen. 

Kann Lidl zum Apple des Einzelhandels werden?

Seit der „Lidl lohnt sich“-Kampagne menschelt es immer öfter beim Discounter. „Woran erkennen wir eigentlich, was gut ist?“, fragt der schwäbische Traditionskonzern in seiner viel beachteten neuen Imagekampagne vor zwei Jahren. Dazu: Glänzende Bilder, die aus einem Apple-Clip stammen könnten – eine Brandung, ein Sprung in den Pool, ein Raketenstart. Gesichter in der Nahaufnahme. Babys, Kinder, Mütter. „Eigentlich wissen wir doch alle ganz genau, was gut für uns ist“, beendete Lidl den viel diskutierten Imagespot, der eine Weiterentwicklung in der Markenwahrnehmung darstellt: Nach dem Werben um Sympathie geht es ums große Ganze.

Und das mit einem urbaneren, cooleren und lifestyligeren Auftritt, wie jüngst der Weihnachtsclip #SantaClara deutlich machte, in dem die amerikanische „The Voice“-Finalistin Emily Roberts auftritt und zeitgeistig verkündet: „Es ist Zeit, dass wir die Regeln dieses dämlichen alten Spiels ändern.“ 

Neue Premium-Tempel und Digitaloffensive

Das gilt nicht zuletzt im Einzelhandel selbst: Auch in seiner ganzen Präsenz und Außendarstellung will sich Lidl offenbar vollkommen neu erfinden. Stolze 6,5 Milliarden Euro investieren die notorisch sparsamen Schwaben in die Modernisierung ihrer Filialen jeweils in diesem und nächstem Jahr – das ist mehr als Apples neue Firmenzentrale im Ufo-Look kostet. „Unser Filialkonzept wird jedes Jahr weiterentwickelt“, erklärt Lidl-Sprecherin Eva Groß gegenüber dem „Handelsblatt“ die Modernisierungsinitiative mit Understatement.

So will Lidl, das in seinem 2 500 Artikel umfassenden Onlineangebot bislang den Löwenanteil der Umsätze mit Elektronik und Textilien erzielt, in Zukunft auch frische Waren wie Obst und Gemüse anbieten. Und mehr noch: Künftig sollen ausgewählte Filialen zu Abholstationen („Lidl Express“) aufgerüstet werden. Der Kunde kann dann online bestellen und die gewünschte Ware bei Lidl abholen, ohne den lästigen Marsch durch die notorisch überfüllten Märkte antreten zu müssen. In den nächsten Monaten soll das Pilotprojekt unter dem Motto „Immer. Mehr. Online“ in Berlin-Schöneberg starten (Aktualität: Das Projekt wurde von Lidl nicht umgesetzt).

Lidl wagt die große USA-Offensive

Dazu führt der Weg über den großen Teich: Es ist der bislang mutigste Schritt in der über vier Jahrzehnte währenden Konzerngeschichte: Im kommenden Jahr greift Lidl erstmals außerhalb Europas an – im hart umkämpften Zukunftsmarkt USA, in dem nicht nur Platzhirsch Walmart, sondern auch der einheimische Erzrivale Aldi bereits seit 1976 präsent sind. „Unter 100 Filialen fangen wir gar nicht an“, kommentierte Lidl-Chef Klaus Gehrig, den das „Manager Magazin“ 2016 zum „Manager des Jahres“ kürte, die Pläne im vergangenen Jahr bereits mit dem gewohnten Nachdruck. Inzwischen scheint klar: Lidl geht aufs Ganze – von mindestens 150 Geschäftsstellen ist mittlerweile zum US-Start in zehn Monaten die Rede. Wie das „Handelsblatt“ noch aus Unternehmenskreisen erfuhr, sind 150 Millionen Euro Anlaufverluste für den Anfang eingeplant.

Von null auf neun Milliarden Dollar Umsatz in den USA

Nach Schätzung des Marktforschers Kantar Retail Projects dürfte Lidl 2018 mit Jahresumsätzen von 700 Millionen Dollar starten, um die Umsätze in den USA im Folgejahr auf zwei Milliarden Dollar zu verdreifachen und es 2023, fünf Jahre nach dem US-Markteintritt, gar schon auf 8,9 Milliarden Dollar zu bringen. „Lidl dürfte versuchen, sich von den einheimischen Einzelhändlern zu unterscheiden“, erklärt Kantar-Director Mike Paglia die Expansionsstrategie der Schwaben, die dem amerikanischen „Bigger is better“-Lifestyle mit doppelt so großen Filialen Rechnung tragen will. „Sie werden Qualitätsprodukte für kostenbewusste Kunden anbieten, aber auch Premiummarken für wohlhabende Käufer“, glaubt der Marktforscher. Spätestens bei einem erfolgreichen US-Debüt hätte sich Lidl damit als wahrlich globale Handelsmarke für das 21. Jahrhundert neu erfunden – eine beeindruckende Wandlung vom schwäbischen Fruchthändler aus der Vorkaiserzeit.

Dieser Artikel ist eine Kurzfassung des Print-Artikels aus der absatzwirtschaft 03/2017. Die Aktualität des Artikels kann deswegen nicht mehr auf dem neuesten Stand sein.